Final Cut - Etzold, V: Final Cut
Berliner Kurier sowie Mitteilungen des LKA lagen. »Sie wollten noch wissen, inwieweit bei dem Killer Opferritual, Vergangenheit und die Beziehung zu Ihnen zusammenpassen, nicht wahr?«
»Wäre nicht schlecht.«
»Nun, das führt uns zu der Frage, was eigentlich seine Motivation ist.« MacDeath hob die Augenbrauen.
»Das würde ich allerdings sehr gerne wissen«, sagte Clara, während sie sich die heiße Kaffeetasse vor den Bauch hielt und die Wärme genoss, die von der Tasse aus durch ihren Körper zog.
»Ich bin dabei, ein psychologisches Profil des Täters zu erstellen. Ist fast fertig.« MacDeath trank leicht angewidert von dem schwarzen Kaffee. »Soweit es möglich ist, versteht sich, denn allzu viel haben wir ja noch nicht.«
»Gut, dann lassen Sie uns zur Sache kommen«, sagte Clara, die mittlerweile befürchtete, dass es auf der ganzen Welt keinen Menschen mehr gab, der kurz und knapp und ohne umständliche Ausschweifungen antwortete. Winterfeld musste immer erst fünf Minuten »nach draußen rauchen«, bevor eine Antwort kam; von Weinstein gab jedes Mal ein Proseminar in Medizin, und Hermann lieferte stets eine Kurzvorlesung in Informatik, bevor er offenbarte, was wieder einmal nicht so schnell zu finden war. Und nun schien auch MacDeath diesem erlauchten Kreis anzugehören.
»Also, was ist die Motivation?«, fragte Clara.
»Erlauben Sie mir eine Gegenfrage?«
Clara verdrehte innerlich die Augen. Natürlich – immer noch keine klare Antwort.
MacDeath blickte sie durchdringend an. »Was ist die stärkste Emotion des Menschen? Und jetzt sagen Sie nicht ›Liebe‹, denn das stimmt nicht.«
»Angst«, sagte Clara.
»Fünfzehn Punkte!« MacDeath nickte. »Angst ist die stärkste Emotion, denn sie wird dem Menschen fast immer von außen aufgezwungen. Das Angsthaben geschieht niemals freiwillig, im Gegensatz zur Liebe, die immer freiwillig und aus dem Menschen heraus motiviert ist. Angst hingegen wird uns normalerweise von einer viel stärkeren Macht aufgezwungen – einer Macht, auf die wir reagieren müssen, um unser Leben oder zumindest unser Wohlbefinden zu retten. Entsprechend reagieren wir. Wenn Sie einen Menschen lieben, rennen Sie ihm nicht unbedingt sofort die Bude ein. Doch wenn ein Kerl mit einer ratternden Kettensäge auf Sie zukommt, laufen Sie, was das Zeug hält.«
»Winterfeld sagt, Angst hätte etwas Archaisches.«
»Wo er recht hat, hat er recht«, sagte MacDeath. »Das Angstsystem ist entwicklungsgeschichtlich so alt und archaisch wie beispielsweise der Geruchssinn, und das bringt es mit sich, dass es sich leicht täuschen lässt. Deshalb gruseln wir uns im Kino, wenn wir einen Horrorfilm sehen, auch wenn uns der Verstand sagt, dass es sich nur um einen Film handelt.«
»Horrorfilme haben wir hier auch«, sagte Clara. »Allerdings echte.«
»Im limbischen System des Gehirns befindet sich die Amygdala, der Mandelkern. Sie ist die Schaltstelle der Angst«, dozierte MacDeath. »Eine uralte, primitive Struktur, die sich im Laufe der Evolution kaum verändert hat.«
Clara erkannte, dass sie wider Willen aufmerksam zuhörte. Auch wenn sie sich immer noch fragte, was das alles mit dem Killer zu tun hatte – irgendwie gefiel es ihr, inmitten des hektischen Treibens des LKA, der Jagd auf den Namenlosen und ihrer eigenen, ungeordneten Vergangenheit der ruhigen Stimme von MacDeath zuzuhören. Er fuhr fort: »Eindrücke oder, besser gesagt, Reize, die Angst verursachen, werden von den Sinnesorganen über den Thalamus auf direktem Weg zur Amygdala im Gehirn geleitet. Keine Umwege, keine Abkürzungen, keine Abschwächungen. Im Speichel steigt der Anteil des Stresshormons Cortisol, der Blutdruck steigt, die Herzfrequenz erhöht sich, die Nebennieren schütten Stresshormone aus, die Leber setzt Zucker frei, die Pupillen weiten sich.«
»Und da die Amygdala archaisch ist, ist auch die Reaktion archaisch«, sagte Clara. »Wir rennen weg, ohne nachzudenken. Wir reagieren instinktiv wie ein Fluchttier, gesteuert von Millionen Jahre alten Triebkräften.«
»Ganz genau. Es gibt zwei Strukturen der Informationsverarbeitung. Die Hirnrinde und die Amygdala. Die Amygdala spielt die Schlüsselrolle, wenn es darum geht, neue Reize augenblicklich in gut oder schlecht, schädlich oder wünschenswert zu kategorisieren. Blitzschnell wird der Organismus in Abwehrbereitschaft versetzt. Die Atmung beschleunigt sich, der Magen krampft sich zusammen, die Muskeln spannen sich an. So wird der Körper auf Flucht
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