Final Cut - Etzold, V: Final Cut
was er über das heilige Opfer sagte?« Er blätterte für Clara zum Ende des Berichts, wo die E-Mail des Namenlosen angehängt war. Ihr Blick flog über die Zeilen, die der Killer an sie persönlich geschrieben hatte.
Was glauben Sie, wie viele Menschen seit Monaten oder Jahren irgendwo in ihren Wohnungen liegen? Menschen, die keiner vermisst, weil mumifizierte Leichen nicht riechen. Die keiner vermisst, weil niemand sie vermissen muss. Weil sie eine nutzlose Verschwendung von Zellmaterial sind, überflüssige Kreaturen, deren Tod allein ein heiliges Opfer ist.
»Hier wird es wieder archaisch«, sagte MacDeath und lehnte sich zurück. »Der Gedanke des Opfers, die Tötung eines Lebewesens, eine böse Tat – nennen wir sie Sünde – ungeschehen zu machen, ist ein Urtrieb. Unser Killer hat das Blut und die Innereien der Opfer mitgenommen, möglicherweise, um damit ein eigenes, bizarres Opferritual zu vollziehen.« Er hielt kurz inne, bevor er weitersprach. »Die Inkas opferten ihren blutdürstigen Göttern Tausende von Menschen. Im antiken Jerusalem wurden den Göttern Baal, Moloch und Astarte neugeborene Kinder geopfert, da nur die Unschuld eines Neugeborenen als geeignet betrachtet wurde, die Götter gnädig zu stimmen, die über die Verfehlungen der Menschheit enttäuscht waren.«
Clara blickte auf den Totenschädel, der vom Schrank hinter MacDeath zu ihr heruntergrinste. MacDeath sprach weiter. »Das Hinnomtal in Jerusalem, auf althebräisch ›Gehinnom‹, war der Ort, an dem das Blut in Strömen floss und der Rauch von verbranntem Fleisch in dichten Schwaden zum Himmel stieg. Das Ganze muss dermaßen schrecklich gewesen sein, dass aus dem Namen des Tales – Gehinnom – das arabische Wort für Hölle entstand, ›Gehenna‹.«
»Klingt plausibel«, sagte Clara, »aber heute ...«
»Heute«, sagte MacDeath, und sein Gesicht verriet eine Art Vorfreude, als würde er auf einen zwischenzeitlichen Höhepunkt seiner Erläuterungen hinsteuern, »heute gibt es fast anderthalb Milliarden Gläubige, die das Blut eines bestimmten Menschen trinken und sein Fleisch essen. Ein Mensch, der eigentlich Gott ist, aber Mensch wurde. Jeden Sonntag. In jeder heiligen Messe.«
»Sie meinen die Eucharistie?« Clara dachte an die Beichte von Mittwoch in der Sankt-Hedwigs-Kathedrale, dachte an die Passage aus dem Neuen Testament. Dies ist mein Leib, der für euch gegeben wird zur Vergebung der Sünden.
» Jesus Christus«, sagte MacDeath. »Er ist nach dem katholischen Katechismus das letzte Menschenopfer, das dem einzigen und wahren Gott dargebracht wird zur Vergebung der Sünden, zum Freikauf der Menschheit, der für ihre Verfehlungen anderenfalls das Höllenfeuer droht. Das Opferlamm, das die Schuld und den Tod auf sich nimmt, um den ewigen Tod der anderen zu verhindern.« Er kniff die Lippen zusammen. »Irgendwann wurde das der Kirche selbst ein bisschen zu heftig, und der frühere Begriff ›Messopfer‹ wurde durch ›Eucharistie‹ oder ›Kommunion‹ ersetzt. Die Protestanten, die ohnehin immer um einiges verkniffener agierten als ihre katholischen Kollegen, machten das Ganze gleich zu einem symbolischen Akt und nannten ihn nur noch ›Abendmahl‹.« Er zuckte die Schultern. »Aber das ändert nichts am Ursprung des Rituals und am Dogma.«
»An welchem Dogma?«
»An dem Dogma, dass in der katholischen Messe die Gläubigen tatsächlich den Leib Christi essen und sein Blut trinken.« Er zeigte auf einen Absatz in seinem Bericht mit einem Kurzzitat aus dem katholischen Katechismus: »›Und weil in diesem göttlichen Opfer der Messe derselbe Christus erhalten ist, der auf dem Altar des Kreuzes sich selbst blutig opferte, ist dieses Opfer ein wahres Opfer zur Vergebung der Sünden.‹ Der Präfekt der Glaubenskongregation in Rom wird es Ihnen bestätigen.«
Clara schloss die Augen, während sie nachdachte, und antwortete dann: »Und für diesen Killer sind die Frauen, die er tötet, die Opfer, die seine früheren Verbrechen ungeschehen machen sollen?«
»So könnte es sein«, sagte MacDeath. »Leider wissen wir nur von einem Opfer, sonst könnten wir anhand der Physiognomie und der Hintergründe der jeweiligen Opfer möglicherweise vom Opferprofil auf das Täterprofil schließen.«
Clara kritzelte ein paar Notizen auf den Ausdruck. »Fassen wir einmal zusammen«, sagte sie dann. »Er tötet Frauen, und zwar nicht aus sexuellen Motiven, sondern damit sie als Opfer stellvertretend für eine frühere Tat ebendiese Tat
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