Final Cut - Etzold, V: Final Cut
schwarzhaarigen, blauäugigen Clara, der man den südeuropäischen Einfluss ansah. Tatsächlich strömte italienisches, spanisches und deutsches Blut in ihren Adern.
Sie vermisste Sarah in der von Männern dominierten Welt, in der sie arbeitete. Die meisten Kommissare und leitenden Beamten waren Männer, genau wie der Großteil der Täter. Oft hatte Clara an lauen Sommerabenden mit Sarah auf ihrem Balkon in der Schönhauser Allee gesessen, ein Glas Weißwein getrunken und sich unterhalten, während unten das Leben brodelte. Es gab nichts, das mehr nach Sommer aussah als die Farbe von gekühltem Weißwein in einem von der Kälte beschlagenen Glas im Gegenlicht der untergehenden Sonne, und für Clara war es der Inbegriff von Entspannung. Keine Kellner, die einen stundenlang warten ließen. Keine Touristen, die sich mit vollen Rucksäcken und dicken Hintern an den Stühlen der Cafés vorbeidrängten. Keine nervige Musik, mit der der Barkeeper die Gäste bespaßen zu müssen glaubte. Nur ein Tisch, zwei Stühle und Weißwein, während unten auf der Straße die Leute unterwegs waren, Nachbarn sich unterhielten und Fahrradklingeln rasselten. Aus offenen Autofenstern dröhnte Musik, die jäh leiser wurde, sobald die Wagen an den Ampeln beschleunigten, dies alles untermalt vom Zwitschern der Spatzen und dem Gurren der Tauben.
Sie hatten über ihre Fälle gesprochen, hatten sich über korrupte Wirtschaftsbosse, Schmugglerringe und Menschenhandel, über Raubmord, Tötungen im Affekt und Serienkiller unterhalten. Oft hatten sie aber auch über ganz normale Dinge gesprochen: über die Bücher, die sie zurzeit lasen, über Ausstellungen, die gerade in der Stadt zu sehen waren, und natürlich über Männer, bei denen die netten leider meist langweilig waren und die, die nicht langweilig waren, immer schon mit einem Fuß im Bett der Nächsten standen.
Auf Höhe der Choriner Straße, wo Clara wohnte, kroch von Zeit zu Zeit die U-Bahn aus dem Untergrund, um dann hoch über der Straße auf einem Stahlgerüst ein paar hundert Meter dahinzurollen und kurzzeitig von der U-Bahn zur S-Bahn zu werden, bevor sie auf Höhe der Bornholmer Straße wieder im Boden verschwand.
Clara musste an Vincent denken, den Freund Sarahs, der an einem ihrer gemeinsamen Sommerabende eine Horrorgeschichte von H. P. Lovecraft erzählt hatte: In der Antarktis entdeckten Forscher in einer unterirdischen Höhle einen gigantischen Wurm, der durch Tunnel unter dem Eis kroch und durch seine schiere Größe dafür sorgte, dass mehrere Teammitglieder den Verstand verloren. Das Ding, das nicht sein darf , hatte Lovecraft den Wurm genannt. Einer der Forscher, der am Ende der Geschichte in der Irrenanstalt landete, konnte bis zu seinem Lebensende nur noch die New Yorker U-Bahn-Stationen von Battery Park bis Central Park herunterbrabbeln. Es ist aber nicht der Wurm, der am Ende unheimlich ist, hatte Vincent gesagt, es ist die U-Bahn. Die moderne Welt versucht, die Ungeheuer der Vergangenheit zu überwinden, schafft aber neue Geister, die vielleicht sogar noch schrecklicher sind.
Clara hatte verstanden, was Vincent meinte, als wieder eine U-Bahn donnernd aus ihrem unterirdischen Reich hervorgeschossen war wie ein gigantischer Aal, der ein Insekt auf der Wasseroberfläche verschlingen will. Die Archetypen, hatte Vincent gesagt, sind tief in uns verwurzelt. Wir wissen, dass es keine Ungeheuer gibt, fürchten uns aber vor ihnen, weil diese Urangst so alt ist wie die Menschheit selbst.
Clara steuerte den Wagen vorbei am Tempelhofer Ufer, fuhr den Mehringdamm stadtauswärts, parkte den Wagen in der Tiefgarage des LKA und betrat den Aufzug. Während sie über den Flur im dritten Stock ging, hörte sie die Mailbox ihres Handys ab. Nichts Wichtiges, Gott sei Dank.
Sie ging in die Küche und schenkte sich an der uralten, rumpelnden und röchelnden Kaffeemaschine einen Becher ein. Sie hatte sich abgewöhnt, Kaffee anders als schwarz zu trinken, jedenfalls, wenn sie auf der Arbeit war. Schwarzen Kaffee gab es überall; man musste nicht umständlich nach Milch fragen, die ohnehin meist sauer war, und Zucker und Süßstoff waren entweder schlecht für die Zähne oder die Figur oder beides. Was nicht bedeutete, dass Clara sich nicht bei Starbucks mal einen übercremigen, übersüßten Caramel-Macchiato gönnte, aber Dienst war Dienst und Starbucks war Starbucks.
Clara wollte gerade die Küche verlassen, als sie schwere Schritte auf dem Flur hörte. Kriminaldirektor Winterfeld kam
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