Finger, Hut und Teufelsbrut
wecken, weshalb die weise vorausschauenden Stadtväter den hiesigen Friedhof auch weit vor die Tore der Stadt in den Wald gelegt hatten. Es pflegte stets genau so lange zu läuten, wie der Durchschnittsbeter brauchte, um ein Vaterunser aufzusagen, dann verstummten die Glocken, und nur die alten Fachwerkmauern der Innenstadt vibrierten noch eine Zeitlang nach.
Noch vier Sekunden … drei … zwei … eins …
Stille.
»Hm«, sagte Seifferheld.
Onis legte den Hundekopf schräg.
Nichts.
Kein Morgengeläut.
Wie sich später herausstellen sollte, hatte ein Fehler in der Elektronik vorgelegen. Die Glocken läuteten erst zur Mittagszeit wieder.
Wäre Siegfried Seifferheld ein abergläubischer Mensch gewesen, er hätte darin ein Omen gesehen.
Und das vollkommen zu Recht.
Das ist kein Speck – das ist eine erotische Nutzfläche.
In circa neun Kilometern Entfernung schubste Seifferhelds Tochter Susanne ihren Lebensgefährten Olaf Schmüller zur gleichen Zeit aus dem gemeinsamen Bett.
Olaf hatte mit ihr zusammen eine wunderschöne Tochter gezeugt und das kleine Häuschen im Vorort Tullau mit eigenen Händen nach ihren Wünschen umgebaut. Außerdem massierte er von Berufs wegen die Hüfte ihres Vaters Siegfried, in der seit einem Banküberfall eine Kugel steckte. Lauter Dinge, die eigentlich für Olaf sprachen.
Und es war ja auch nicht seine Schuld, dass sie sich als frischgebackene Mutter so total unerotisch fühlte. Alles an ihr war fleischig und wabbelig …Wie um alles in der Welt schafften es Promi-Mütter wie Heidi Klum, nach wenigen Wochen schon wieder ihren alten, straffen Körper zu haben? Susanne fand sich hässlich, und dass Olaf mit ihr schlafen wollte, erschien ihr demütigend. Dabei
konnte
es sich doch nur um eine reine Mitleidsnummer handeln, und Mitleid wollte sie nicht! Sie war kein süßes Frauchen, das man verhätschelte, wenn es Kummer hatte, sie war eine gestandene Karrierefrau, die sich nur mal kurz eine Auszeit genommen hatte, um den Fortbestand der Menschheit zu sichern (was sie im Übrigen wohl eher nicht aus freien Stücken getan hätte, aber Olaf hatte seinerzeit eine Packung defekter Kondome zum Einsatz gebracht).
»Olaf!«, warnte sie, und in null Komma nichts wurde aus Selbstmitleid ein leises Knurren im hinteren Rachenraum.
»Entschuldige, Liebes, ich wollte dich nur wach küssen, mehr nicht«, säuselte Olaf, der sich mit neuen blauen Flecken vom Teppich aufrappelte. Allmählich sah er aus wie der
Blaue Reiter
von Kandinsky, zumal mit seinem Pferdeschwanz, und seine Kollegen vom Reha-Zentrum spekulierten schon, ob er sich seit neuestem mitternächtliche Kneipenschlägereien angewöhnt hatte oder ob ihn seine Frau womöglich verprügelte. Dabei hatte er extra zwei zusätzliche Fleecedecken vor seiner Seite des Bettes ausgelegt, seit seine Susanne jedes Mal, wenn er im Bett zärtlich werden wollte, ihren Ellbogen ausfuhr und ihn mit gezielten Fußtritten von der Matratze hebelte.
»Du brauchst einfach noch mehr Zeit«, sagte er und streichelte den abstrakt gemusterten Nachthemdrücken von Susanne.
Es war ihm wirklich ernst. Seine Geduld kannte keine Grenzen. Er liebte seine Frau.
Die wiederum gab einen undefinierbaren Laut von sich und zog sich das Kissen über den Kopf. Dass Olaf so unglaublich verständnisvoll und geduldig war, machte alles nur noch schlimmer.
Im Nebenzimmer wachte klein Ola-Sanne auf und krähte munter. Sie war ein sonniges Kind, das so gut wie nie schrie, und wenn doch, so waren seine Lautäußerungen durchweg angenehm fürs Ohr. Opa Seifferheld antizipierte bereits eine Opernkarriere für die Kleine.
»Ich geh schon«, rief Olaf. »Mach ich gern.«
Susanne stöhnte.
Genervt.
Männer, die keinen Honig kaufen, sondern Bienen kauen
»So, wie wär’s jetzt mit Frühstück, Hund?«, fragte Seifferheld und hinkte ohne Stock zur Küchentheke. Ein schmerzhaftes Unterfangen.
Seine Hüfte bockte. Seit sich seine Tochter Susanne und sein Physiotherapeut Schrägstrich Masseur Olaf in Liebe gefunden und wider alle Probabilität neues Leben gezeugt hatten, gab es für Siggi Seifferheld zwar umsonst Massagestunden, es blieb ja in der Familie, aber dafür fielen diese Stunden erschreckend unregelmäßig aus. Das rächte sich. Nicht nur bei den Schäferstündchen mit seiner Freundin Marianne, genannt MaC, nein, auch beim Gang vom Küchenstuhl zur Küchentheke. Alles tat ihm weh. Auch die Bereiche, wo gar keine Bankräuberkugeln saßen.
Onis kam mitsamt rosa
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