Finish - Roman
suchten sich Moriarty und Eleanor die Besten heraus und besetzten mit ihnen die Nebenrollen. Sie waren gute Lehrer: Eleanor ruhig und ermutigend, Moriarty leidenschaftlich und inspirierend. »Siesollen den Text weder verhökern noch verpacken noch den Leuten in den Hals stopfen, Ladys!«, zeterte er. »Sie sollen ihn verinnerlichen !«
Eleanor und Moriarty studierten mit jeder ihrer Schulklassen ein Theaterstück ein, und obgleich die Teilnehmer anfangs fast ausschließlich weiblich waren, machten die begeisterten Stimmen über den Professionellen Sprechunterricht bald die Runde, und die männlichen Rollen wurden mehr und mehr von Ladeninhabern und Hufschmieden übernommen. Dolly Browns Mädchen, mit Schauspielerei vertraut (wenngleich nur in der Horizontalen), wollten ebenfalls mitmachen, und um die gottesfürchtigen Damen der Stadt nicht vor den Kopf zu stoßen, brachte man sie in gesonderten Klassen und Produktionen unter. Unter ihnen fand Moriarty einige seiner besten Schauspielerinnen. Bei ihnen brauchte er kein Blatt vor den Mund zu nehmen, denn diesen Frauen war so gut wie nichts peinlich.
»Schauspielerei ist Klempnerarbeit«, brüllte er die geschminkten Schönheiten an. »Man muss die Rohre freiblasen, um seine innersten Empfindungen nach außen zu befördern, um sein Wesen rauszukehren. Also, Ladys, blast die Rohre frei!«
Der Star von Canyon City war jedoch nicht eine von Dolly Browns Mädchen, sondern Amanda Boone, die Tochter des verwitweten Marshal Obadiah Boone, die sich als das größte schauspielerische Naturtalent erwies, das Eleanor und Moriarty je untergekommen war. Zwar bewegte sie sich auf der Bühne noch recht hölzern, verfügte aber über zwei seltene Gaben: ein natürliches Gespür für Versmaß und enorme Bühnenpräsenz. Nachdem sie ihre Stimme in stundenlangen Zwerchfellübungen mit Eleanor einigermaßen in den Griff bekommen hatte, beschloss Moriarty, sie in der Othello -Mordszene die Desdemona geben zu lassen. Für einen Laien hatte Mandy Boone eine erstklassige Vorstellung abgeliefert und damit nicht nur ihre Mitbürger, sondern auch den vergnatzten Vater begeistert,der für die schauspielerischen Ambitionen seiner Tochter bislang weder Interesse noch Verständnis gezeigt hatte. Doch daran, dass Obadiah Boone den Wunsch seiner Tochter, Schauspielerin zu werden, statt als Lehrerin in Canyon City zu arbeiten, missbilligte, konnte auch der ruhmreiche Nachhall des Othello nichts ändern. Für den Marshal waren Schauspielerinnen nicht viel besser als Huren – Mrs. Moriarty in allen Ehren –, und er würde nicht zulassen, dass seine einzige Tochter in einem Puff endete, mochte sie die Arbeit als Lehrerin auch noch so sehr verabscheuen. Moriarty und Eleanor hielten sich aus der Sache heraus. Obadiah Boone war ein einflussreicher Mann in Canyon City, und sie hatten keine Lust, sich unbeliebt zu machen.
Es war Richter Halsey, der die Bezeichnung »Renaissance-Mensch« für Moriarty aufbrachte, obgleich er im Grunde keine Ahnung hatte, was das bedeutete. Halsey hatte gehört, dass Präsident Lincoln so genannt worden war, damals, in den goldenen Zeiten, als der Mayor für den Präsidentschaftskandidaten Wahlkampf gemacht hatte. In seiner Jugend war Lincoln ein guter Ringer gewesen und ein passabler Läufer dazu, und Halsey meinte sich zu erinnern, dass Leonardo da Vinci Münzen mit seinen bloßen Fingern verbiegen konnte und George Washington vor rund 100 Jahren im Weitsprung gut sechseinhalb Meter geschafft hatte. Folglich war der mit schauspielerischen und läuferischen Fähigkeiten gesegnete Moriarty für Halsey zu einer Art Idol geworden, und an jenem Tag, als die Idee vom Großen Sprint das erste Mal aufkam, hatte der kleine, rundliche Mayor am Tresen von Mulligan’s Bar gesessen und sich, fröhlich durch die Historie schlingernd, über den Hammerwerfer Heinrich VIII. und Platos Ringertalent ausgelassen.
Es war gerade Mittag, und draußen brannte die Julisonne erbarmungslos auf die menschenleere Straße. Moriarty,Boone, der Falschspieler Medina und Buck waren beim dritten Drink, und während die Fliegen träge durch die drückende Hitze surrten, hörte Halsey nicht auf, von seinem »Renaissance-Menschen« zu schwadronieren.
Schließlich ließ sich Moriarty zu einer Bemerkung hinreißen. Schauspielerei und Sport seien so ziemlich das Gleiche, erklärte er. Auf dem Gipfel des Könnens, egal ob auf den Brettern oder auf der Rennstrecke, ergriffe ein einzigartiges Machtgefühl von
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