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Finkenmoor

Finkenmoor

Titel: Finkenmoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Myriane Angelowski
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ließ es sich einfach nicht öffnen. Voller Ungeduld riss Ronny am Schloss. Maxis Geschrei wurde lauter. Als er den Verschluss endlich entriegelt hatte, war Ronny schweißgebadet.
    »Halt endlich die Schnauze«, schrie er. Zu seinem Erstaunen verstummte das Kind sofort.
    Sie sah erbärmlich aus. Die Jeans pitschnass, wahrscheinlich hatte sie sich in die Hose gemacht. Ihre knallrote Daunenjacke war durchtränkt von Nässe und dunklen Flecken. Der Geruch war grauenvoll, und nun ging die Heulerei von vorne los.
    »Was hast du denn?«, fuhr er sie an. »Warum heulst du? Kannst du mir das bitte mal verraten?«
    »Ich … ich will zu meinem Paps!«
    Ronny schnellte vor und gab ihr eine Ohrfeige. Für einen Moment herrschte Ruhe, dann fing sie wieder an, flennte lauter als zuvor.
    Er hatte einen Fehler gemacht, das dämmerte ihm. Die Kleine war zu jung, mit ihr konnte es keine richtige Unterhaltung geben. Zudem war sie äußerst weinerlich. Seine Nerven ertrugen Schreierei nicht, da war er einfach unheimlich empfindlich. Ihm fiel ein, dass er ihr etwas zu essen mitgebracht hatte. Schinkenspeck, in Küchenpapier eingerollt.
    »Hier, nimm, du hast doch sicher Hunger.«
    Zu seinem Ärger reagierte Maxi darauf überhaupt nicht, jammerte weiter und rief mit heller Stimme nach ihrem Papa.
    »Ich hab dir Essen mitgebracht, und das wirst du auch gefälligst runterschlucken!«
    Ronny warf ihr den Speck in den Käfig. Doch Maxi krümmte sich auf dem Boden, würgte und übergab sich, ohne den Speck überhaupt angefasst zu haben.
    Ronny beobachtete sie. Fasziniert und angeekelt zugleich. Wenn nur dieser Gestank nicht wäre. Er lehnte sich gegen einen Holzbalken und zog sein Messer aus dem Ärmel.
    Maxi rutschte möglichst weit von ihrem Peiniger weg.
    »Möchtest du, dass ich dir eine Geschichte vorlese? Ja, das gefällt dir bestimmt.«
    Maxi lag in ihrem Erbrochenen, wimmerte jetzt nur noch leise und starrte ihn an, ohne ein Wort zu sagen.
    »Ich finde es wirklich nicht schön, dass du mir niemals eine Frage beantwortest, aber du wirst sehen, mit der Zeit werden wir Freunde.«
    Mit dem Messer in der Hand setzte er sich im Schneidersitz vor den Käfig und zog ein dickes Buch hinter einem Regal hervor. Der Einband war schmutzig, die Seiten vergilbt. »Also, die Geschichte heißt ›Sterntaler‹ und ist von den Gebrüdern Grimm, auch bekannt unter dem Titel ›Das arme Mädchen‹.« Ronny lachte. »Das gefällt mir besser und passt zu dir. Hab ich mir vorher gar nicht überlegt, ich kenne dieses Märchen schon lange. Meine Oma hat es mir immer vorgelesen, als ich klein war. Nun hör gut zu: ›Es war einmal ein armes, kleines Mädchen, dem waren Vater und Mutter gestorben, es hatte kein Haus, in dem es wohnen, und kein Bett mehr, in dem es schlafen konnte, und nichts mehr auf der Welt als die Kleider, die es auf dem Leibe trug …‹«
    Maxi übergab sich wieder, hörte gar nicht auf. Ronny hielt inne. Wie viel Flüssigkeit in so einem kleinen Menschen steckte.
    Er räusperte sich und las weiter. »Also, ›… es hatte nichts außer die Kleider, die es am Leib trug, und ein Stückchen Brot in der Hand, das ihm ein Mitleidiger geschenkt hatte; es war aber fromm und gut‹.« Er lehnte sich vor. »Bist du fromm? Betest du zum lieben Gott?«
    Maxi rührte sich nicht.
    In dem Augenblick klingelte Ronnys Handy. Die Nummer, die im Display erschien, kannte er nur zu gut.
    »Nicht jetzt!«, stöhnte er und versuchte, das Klingeln zu ignorieren.
    Es gelang ihm nicht.
    Ronny wurde zusehends nervöser und klappte schließlich entnervt das Buch zu. Wenn sein Vater sich festgebissen hatte, war er wie ein Terrier. Maxi lag mit geschlossenen Augen in ihrer Kotze. Im Licht der Taschenlampe sah er, dass sie blutete. Der Grund war ihm schleierhaft, sein Mund wurde trocken. Leider brach der Klingelton nicht ab, sein Vater ließ nicht locker. Es hatte keinen Zweck, er musste los.
    Fluchend stellte Ronny das Buch an seinen Platz und schloss die Käfigtür. Als er das Schloss verriegeln wollte, hakte es wieder. Diesmal bekam er es einfach nicht zu. Er hantierte sich in Rage, wurde aggressiver, trat gegen den Käfig.
    Er musste ihn verschließen. So schwach das Kind auch war, sie würde versuchen zu fliehen, da machte er sich nichts vor. Ronny leuchtete mit der Taschenlampe umher und atmete erleichtert auf, als er in einer Ecke die alte Seemannskiste stehen sah. Siebzig Zentimeter tief, über einen Meter lang, solide aus Holz gebaut und mit Leder

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