Finkenmoor
beschlagen. Sie eignete sich hervorragend als Gefängnis. Der Deckel hatte schmale Schlitze, Luft konnte also zirkulieren. Widerwillig und voller Ekel griff Ronny nach Maxi. Sie strampelte und schrie, bis er ihr eine Ohrfeige verpasste. Unsanft warf er sie in den sperrigen Koffer, den er mit zwei Riegeln verschloss.
Auf dem Weg zur Firma seines Vaters dachte er angestrengt nach. Das Kind nervte tierisch. Am liebsten hätte er sie gepackt und einfach irgendwo ausgesetzt. Aber das ging nicht. Dummerweise hatte sie sein Gesicht gesehen. Daran hatte er vorher keinen Gedanken verschwendet. Er hätte eine Maske tragen sollen, so eine aus dem Karneval. Clown, oder besser noch eine dieser Horrorfratzen. Da hätte sich die Kleine aber mit Sicherheit erst recht in die Hose geschissen. Zu spät. Sie hatte sein Gesicht gesehen. Er konnte sie nicht freilassen. Wahrscheinlich musste er die Heulsuse letztlich auch auf seinen Friedhof der Kuscheltiere werfen.
Cuxhaven 2012, Haydnstraße
Claire brachte der DHL-Paketservice an einem sonnigen Tag Ende Februar. Nach langem Zögern hatte Norma sie schließlich bestellt. Jason lag bei ihrer Ankunft im Laufstall und schmollte.
Norma spürte seine Eifersucht, versuchte, den Ängsten des Jungen Raum zu geben und chattete sogar im Internet zu diesem Thema. Mittlerweile ausschließlich mit Dorit, einer Reborn-Mama aus Hannover, die Einzige, von der sie sich im Forum wirklich ernst genommen fühlte.
Sie schienen auf einer Wellenlänge, teilten ähnliche Ansichten und Gefühle. Dorits Zeilen taten gut, machten Mut und bestärkten Norma in ihrem Vorhaben, ein weiteres Baby aufzunehmen. Jason konnte schließlich nicht wissen, was ihm entging. Geschwister sind etwas Wunderbares, du wirst schon sehen .
Lange Abende hatte Norma vor den Onlinekatalogen verbracht und mehr als siebzig Babyprofile angeklickt, bis sie sich schließlich für Claire entschieden hatte. Seit der Bestellung hüpfte ihr Herz vor freudiger Erwartung. Rosa Babysachen ersteigerte Norma bei eBay. Fast täglich kamen Sachen mit der Post, und einmal traute sie sich sogar in das Kindermodengeschäft in der Hans-Claußen-Straße.
Jason hatte das Nachsehen. Ein ums andere Mal kürzte Norma die Abendrituale mit ihm ab oder nahm ihn ungewaschen mit ins Bett. Wenn es ihr auffiel, schämte sie sich dafür und widmete sich umso hingebungsvoller ihrem Liebling.
Norma versuchte zu ergründen, woran es liegen konnte, dass Jason manchmal für Stunden schlichtweg aus ihren Gedanken verschwand. Aber sie fand keine Antwort, schimpfte sich eine schlechte Mutter, verbarg das Thema auch vor ihrer Chat-Freundin und fieberte Claires Ankunft entgegen.
Als Norma diesmal den Karton öffnete, schockte sie der leichenhafte Anblick des Rohlings nicht. Wesentlich routinierter als bei Jason ging sie zu Werke, wusch die Einzelteile der Kleinen, ließ sie trocknen und öffnete ihr sogar die Augen, leicht zitternd, aber tapfer. Da das Material in den Augenhöhlen auf Spannung gearbeitet war, riss es während des Schneidens mandelförmig auseinander, ein Kinderspiel. Auch wenn Claire in diesem Moment einem Säugling glich, dem die Augen entfernt worden waren. Zugegeben, der Anblick der hohlen Löcher hatte etwas Erschreckendes, aber hellblaue, extra große Kristallglasaugen lagen zum Einsetzen bereit und fügten sich bildschön in Claires Gesichtchen ein. Guten Mutes feilte Norma die Schnittstellen der Lider, trug später die verschiedenen Farbtöne auf die Haut auf, malte neben Äderchen auch Augenfalten und täuschend echt aussehende Tränensäcke.
»Du wirst wunderschön«, flüsterte Norma und registrierte, dass sie zu diesem Vinylbaby schneller als zu Jason Nähe aufbaute. Gleichzeitig bremste sie sich ein wenig, mahnte sich, die Kleine nicht zu rasch fertigzustellen. Diese Zeit war die intensivste, die sie mit Claire erlebte, und sie sollte möglichst lange dauern. Auch aus diesem Grund entschied sich Norma dafür, diesem Baby nicht einfach ein Toupet aufzukleben. Claire wollte sie, in einer extrem zeitintensiven Prozedur, einzelne Echthaarsträhnen mit einer Nadel auf der Kopfhaut implantierten.
In allen einschlägigen Zeitschriften und Internetforen lobten Babymütter das Ergebnis des aufwendigen, dafür aber überaus lohnenswerten Verfahrens. Norma nahm sich die Zeit. Verteilte das sogenannte Rooting auf mehrere Tage, kümmerte sich besonders liebevoll um Jason, ging einkaufen, wimmelte ihre Mutter ab und bestellte Fertiggerichte.
Sie ertappte
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