Finnischer Tango - Roman
am ehesten wie ein Umweltvergehen aus.
Die Vertreterin des Kunstmuseums fuhr währenddessen fort. »… sie ist eine wichtige Vorreiterin, die es verstanden hat, in ihrem künstlerischen Ausdruck die Einstellung des unbekümmerten Forschungsreisenden zu bewahren, und mit deren Werken die unerschütterliche Vorstellung von der Leichtigkeit der Kreativität verbunden ist, der Eindruck von Schwere wird durch ihre Werke höchst selten transportiert. Die Abfälle und das durch sein Alter patinierte Material suchen in den Installationen von Ilona Si eine Balance – immer wieder und wieder …«
Ratamo schien es so, als wäre auch seine Balance verlorengegangen. Was für ein Zeug faselte die Frau da? Neugierig verfolgte er, wie die Rednerin ihren Platz vor dem Müllhaufenverließ und neben einem großen Metallvehikel stehenblieb.
»Die Relationen zwischen diesen auf derselben Stufe installierten, auf das Wesentliche reduzierten Exemplaren sowie das von den Oberflächen reflektierende Licht sorgen für Räumlichkeit. Das Rechtwinklige und die platte Ebene meidet Ilona Si«, erklärte die Rednerin und umkreiste dabei das merkwürdige Elaborat.
»Die Flächen dieses Werkes mit dem Titel ›Funvaari‹ strahlen eine große Vitalität aus. Bedeckt sind sie mit geometrischen Figurierungen und Strukturen, die an Leiterplatten und Diagramme erinnern. Man denkt dabei an Mandala-Muster, an Raumschiffe und Konstruktionen aus Science-Fiction-Filmen …«
Erleichtert stellte Ratamo fest, dass die Frau endlich am Ende ihrer Rede angelangt war. Das Publikum applaudierte zurückhaltend, als Ilona nach vorn trat.
»Obwohl die Arbeit des bildenden Künstlers oft physisch schwer und mit Schmutz verbunden ist und obwohl sie viele technische Fähigkeiten verlangt, will ich auch künftig nicht zum abstrakten, minimalistischen Ausdruck wechseln, sondern den von mir gewählten Weg weitergehen, weil ich alles andere anstrebe als das Mathematisch-Philosophische. Vielmehr suche ich Naturverweise und eine Form, die für mich perfekt wäre. Die Form oder das Ganze entwickeln sich jedoch nicht, wenn man skaliert oder den Müll durch Granit oder Marmor ersetzt. Ich möchte auch künftig altes Material in einer Weise wiederverwerten, für die der Betrachter nur schwer eine Erklärung findet.«
Dieses Ziel ist schon erreicht, dachte Ratamo. Er betrachtete voller Bewunderung das zu dicken Zöpfen geflochtene Haar seiner Freundin und überlegte, wie lange er brauchen würde, um Ilona das mit Dutzenden Seidenbändern und Pailletten geschmückte Kleid auszuziehen. WeiblicheSchönheit wusste er schließlich zu schätzen, im Gegensatz zu abstrakter Kunst.
Ilona trat vor die Installation, die an einen Müllhaufen erinnerte, und ein Lächeln überzog ihr Gesicht. »Die Inspiration zu diesem Werk erhielt ich bei einem Spaziergang auf der Müllkippe von Ämmässuo im letzten Frühjahr. Dort stolperte ich über den Arm eines Menschen und schrie, bis ich heiser war. Ein schreckliches Erlebnis. Der Arm gehörte natürlich zu einer Schaufensterpuppe, aber das war mir ja nicht sofort klar.« Ilona lachte. »Beachten Sie übrigens, wie viel leeren, für eine langsame Annäherung geeigneten Raum ein solches Werk, das sich auf Grundformen stützt, um sich herum braucht.«
Ihre Blicke trafen sich, und Ratamo interpretierte das Lächeln und leichte Kopfnicken seiner Freundin als Erlaubnis, sich zu entfernen. Ilona würde den ganzen Abend die Eröffnung ihrer Ausstellung feiern müssen, aber den morgigen Tag wollten sie gemeinsam verbringen. Was konnte es Angenehmeres geben, als einen ganzen Sonntag zu faulenzen?
Die Fahrt auf den etwa zwei Kilometern vom Zentrum nach Punavuori verlief stockend, weil die Ampeln an der Erottaja-Kreuzung gelb blinkten. Ratamo versuchte sich zu erinnern, wann man in Helsinki das letzte Mal schon Anfang Dezember unter so einem klirrenden Frost hatte leiden müssen, und ihm fiel nur ein Winter in seiner Kindheit ein, als eine seiner Zehen erfroren war, weil er einen ganzen Sonntag im Park Tehtaanpuisto Eishockey gespielt hatte. Er musste lächeln. Ein paar Rotznasen aus seiner damaligen Truppe hatten es später bis in die Erste Liga geschafft, und ein besonders gewalttätiger Typ hatte in der Nationalmannschaft und sogar in der NHL gespielt. Plötzlich kam sich Ratamo sehr alt vor. Alle Spieler seiner Generation hatten ihre Laufbahn längst beendet.
Ratamo parkte seinen Käfer auf dem Innenhof des Wohnhauses in der Korkeanvuorenkatu,
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