Finnisches Quartett
schon so alt, daß er nicht mehr wußte, welche Dummheiten er selbst während seines Medizinstudiums angestellt hatte? Ungewollt mußte er lächeln, als ihm der Vorabend eines Maifeiertags vor vielenJahren einfiel. Damals hatte er einen Blechharnisch, die Werbung für eine Biermarke, die nun schon das Zeitliche gesegnet hatte, an der Tür einer Kneipe in Punavuori geklaut und zur Maifeier in die Clubräume der Medizinstudenten geschleppt. Bei der Polizei war eine Flut von Anrufen zu dem Harnischdieb eingegangen. Daraufhin traf die Obrigkeit in den Clubräumen ein, und seine Kommilitonen versteckten ihn mitsamt dem Harnisch im Kühlraum. Die Polizisten wurden sie wieder los, aber dann mußte man in den Kneipen der Umgebung den Clubchef und die Schlüssel für den Kühlraum suchen. Der Harnischdieb in seinen Sommersachen war inzwischen fast erfroren. Als er den fünf Grad kühlen Raum endlich verlassen konnte, taute er den inneren Frost mit Schnaps auf und betrank sich dabei bis zur totalen Besinnungslosigkeit. Davon erholte er sich geistig erst, nachdem er den ganzen Mai keinen Alkohol angerührt hatte. Dieser Maifeiertag zählte für ihn wahrhaftig nicht zu den gelungensten, wohl aber zu den unvergeßlichen.
Schluß mit den Erinnerungen, die Motorsäge mußte zum Schweigen und der Lärm über ihm rechtzeitig gedämpft werden. Er hatte Nellis Großmutter und ihren Patenonkel mit Familie zum Abendessen eingeladen, um seine Tochter von dem Trubel am Ersten Mai fernzuhalten. Ratamo griff zum Telefon und wählte die 10022.
»Notrufzentrale der Polizei, Saari.«
»Oberkommissar Arto Ratamo von der Sicherheitspolizei, Tag. Ich habe ja viel Verständnis für Feiern zum Ersten Mai, aber in der Korkeavuorenkatu wird jetzt eine Streife gebraucht«, sagte er forsch und berichtete von dem irren Krach der Studenten.
Der Beamte, der Telefondienst hatte, notierte Ratamos Namen und Kontaktdaten und versprach, bei nächster Gelegenheit eine Streife vorbeizuschicken, wies allerdings daraufhin, daß es wegen des Hochbetriebs am Ersten Mai eine ganze Weile dauern könnte.
Ratamo schlich zur Tür von Nellis Zimmer, spähte hinein und hörte an ihrem Schnaufen, daß seine Tochter noch in tiefem Schlaf lag. Was würde er doch für so einen guten Schlaf geben. Seine Schlafschwierigkeiten waren in den letzten Monaten so schlimm geworden, daß er schon ernsthaft überlegte, ob er sich Pillen besorgen sollte, obwohl er ansonsten Medikamente mied wie eine Amputation.
Die Stelle als Oberkommissar hatte Ratamo vor etwa zwei Wochen bekommen, als er in die neue Antiterroreinheit der operativen Abteilung der Sicherheitspolizei berufen worden war, und er hatte sich an den Titel noch nicht gewöhnt. Die Ernennung hatte bei einigen Kollegen in der SUPO für böses Blut gesorgt, obwohl er seiner Meinung nach bei den schwierigsten Ermittlungen der letzten Jahre seine Qualifikation unter Beweis gestellt hatte. In gewisser Weise verstand er den Groll der von ihren Dienstjahren her älteren Ermittler: Er arbeitete erst seit gut drei Jahren im Haus und hatte gerade vor einem Monat die Zeugnisse für den gehobenen Polizeidienst erhalten. Der Chef der SUPO, Jussi Ketonen, hatte ihm die Stelle wohl als eine Art Abschiedsgeschenk besorgt; in etwa zwei Wochen würde er in Rente gehen.
Ratamo wartete am Fenster auf die Polizei und schaute dann und wann auf die Straße hinaus; das milde Wetter und das helle Sonnenlicht waren ihm so willkommen wie jedes Jahr im Frühling. Die Freude darüber wurde getrübt, als er eine alte Frau mit einem Hut erblickte, die nicht einmal am Fußgängerüberweg wagte, die Straße zu queren, weil die Autofahrer das Tempo nicht drosselten.
Aus irgendeinem Grund schweiften seine Gedanken derzeit öfter als früher ab und beschäftigten sich mit bedrückenden Themen; obwohl er nach dem Abschluß des Studiums, für das seine ganze Freizeit draufgegangen war, harttrainiert hatte, so daß er sich in einer glänzenden Form befand, und er hatte auch versucht, sich psychisch zu entspannen. Es schien so, als würde es ihm immer schwerer fallen, die Last des Bösen zu tragen, dem er bei den Ermittlungen begegnete. Und die gewalttätigen Weltereignisse in der letzten Zeit hatten dieses Gefühl noch verschlimmert. Manchmal fragte er sich sogar, ob es damals wirklich eine kluge Entscheidung gewesen war, die Laufbahn eines Virusforschers gegen die Arbeit eines Polizisten einzutauschen. Vor drei Jahren hatte er sich naiv ausgemalt, daß er bei
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