Finnisches Quartett
SONNABEND
Maifeiertag
1
Jorge Oliveira riß die Tür des Versorgungseingangs auf, die er vom Alarmsystem abgetrennt hatte. Der Elektronikexperte ging mit glühendem Enthusiasmus zu Werke: Dieser Anschlag würde die Welt verändern. In Den Haag war es genau drei Uhr nachts. Ein Regenguß rauschte in der Dunkelheit herab, die Tropfen tanzten auf dem Asphalt, als das Terroristentrio in schwarzen Kevlar-Overalls und Gesichtsmasken die Zentrale betrat. Das Schwierigste stand ihnen noch bevor.
In dem dunklen Flur leuchteten hier und da rote Punkte. Trotz seiner Fähigkeiten vermochte auch Oliveira die Bewegungsmelder nicht auszuschalten, aber mit einer präzisen Choreographie konnte man ihre leblosen, rot glühenden Augen umgehen. Lasse Nordman, Jorge Oliveira und Ulrike Berger bewegten sich in dem stockfinsteren Flur wie Meister des modernen Tanzes: erst auf dem Bauch, dann an die Wand gedrückt und schließlich in der Hocke.
Lasse Nordman, der voranging, blieb stehen, um ruhig durchzuatmen. Er sah in dem stockfinsteren Flur keinen einzigen Lichtschimmer. Sein Mund war ausgetrocknet. Er ging seitwärts weiter, den Rücken an der Wand, plötzlich stieß er mit der Armbanduhr irgendwo an; es krachte, und dann fiel etwas zu Boden. Ihm stockte der Atem, und sein Puls raste. Eine Sekunde verging, eine zweite – kein Alarm. Wütend biß Nordman die Zähne zusammen: Sie hatten diese Bewegungen Dutzende Male geübt, aber gegen den Zufall war man nie gefeit.
Dann endlich erreichten die Ökoterroristen den Treppenflur. Genau wie die unterirdischen Stockwerke wurde dieser nur mit Kameras überwacht, so daß sie jetzt schneller voran kamen. Sie stiegen hinunter ins zweite Kellergeschoß und rannten dann im Lichtkegel der Taschenlampen die endlosen Flure entlang. Oliveira kannte den Grundriß des Gebäudes auswendig. Die Bilder der Überwachungskameras auf dem Weg, den er gewählt hatte, waren auf den Bildschirmen in der Kontrollzentrale des Gebäudes nicht ununterbrochen zu sehen. Schließlich blieb das Trio vor der gläsernen Schiebetür der EDV-Zentrale von Dutch Oil stehen. Oliveira holte aus seinem Rucksack einen kleinen Palm-Computer, steckte die daran befestigte Keycard in den Kartenleser der Tür und tippte einen Code ein. Mit einem Rauschen öffnete sich die Schiebetür. Ein Alarmsignal war nicht zu hören.
Oliveira stürzte zum Zentralserver der Firma, Ulrike Berger stellte sich neben ihn, und Lasse Nordman blieb an der Tür stehen, um den Flur zu beobachten. Als der Portugiese die Tastatur einige Minuten lang heftig bearbeitet hatte, riß er sich die Maske vom Gesicht. »Ihr könnt die Masken abnehmen, die Überwachungskameras sind ausgeschaltet«, flüsterte er auf englisch. Dann holte er aus der Schenkeltasche seines Overalls eine CD, steckte sie in den Computer und hämmerte auf die Tastatur ein wie ein Pianist kurz vor dem furiosen Finale. Im fahlen Licht des Bildschirms leuchtete er wie ein phosphoreszierendes Gespenst, und der kühle Luftzug aus der Klimaanlage ließ die Haare auf seinen Handrücken zu Berge stehen. Oliveiras Aufgabe bestand darin, die Datensysteme des größten europäischen Ölkonzerns zu zerstören. Wenn ihm das gelang, wäre Dutch Oil völlig lahmgelegt.
Lasse Nordman, der den Flur überwachte, zog die Maske vom Kopf, fuhr sich durch sein blondes, kurzgeschnittenesHaar und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Bisher verlief alles nach Plan. Das mußte auch so sein, schließlich hatte die Zelle ihren Anschlag monatelang vorbereitet. Nordman lächelte, als Ulrike Berger neben ihn trat und tief Luft holte. »Drei Stunden lang warten?« flüsterte Lasse. So viel Zeit blieb ihnen: Um sechs Uhr elf ging die Sonne auf, und gegen sieben Uhr würden die ersten Mitarbeiter im Hauptgebäude von Dutch Oil eintreffen. Ulrike berührte mit den Lippen fast das Ohr ihres Geliebten. »Die neue Weltordnung entsteht nicht innerhalb eines Augenblicks«, sagte sie leise, leckte sein Ohr und machte auf dem Absatz kehrt.
Lasse betrachtete die blonde Österreicherin, die auf ihren Platz an Jorges Seite zurückkehrte. Ulrike wirkte auch jetzt ruhig und entschlossen; in ihrer unerschütterlichen Überzeugung lag etwas Kaltes. Die Tochter eines Pfarrers, die das Studium der internationalen Politik aufgegeben hatte, um sich den Ökoterroristen anzuschließen, wollte voller Enthusiasmus eine gerechtere Welt schaffen.
Für den Finnen war dies der stolzeste Augenblick seines Lebens; er hatte also doch seinen Weg
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