Finnisches Roulette
Kater quälte ihn mehr als je zuvor. Das letztemal hatte er den Mittsommer 1992 auf so bescheuerte Weise verbracht, im darauffolgenden Winter war er seiner inzwischen verstorbenen Frau Kaisa begegnet und dann zur Ruhe gekommen. Für eine Weile.
Neben ihm lag niemand, der ihn aufgemuntert hätte. Ein reichliches Jahr hatte er mit Riitta Kuurma zusammengelebt, aber die Beziehung war in der vorletzten Woche zu Ende gegangen, als Riitta ihm mitgeteilt hatte, sie habe eine Stelle in der Antiterroreinheit von Europol bekommen und würde sofort nach Den Haag ziehen. Riitta hatte behauptet, sie brauche ein Jahr ohne SUPO und ohne Erik Wrede. Von einer Trennung hatte sie nicht ein einziges Mal gesprochen. Das brauchte sie auch nicht, dachte Ratamo, die Taten sprachen schließlich für sich, und eine Fernbeziehung interessierte ihn nicht im geringsten.
Es war nicht nur der Sex, nach dem sich Ratamo sehnte, sondern auch Riittas Geruch, die Einkochgläser mit Kräutern und die Pastagerichte. Andererseits glaubte er, gut ohne Radiowecker früh um sechs, ohne gekränkte Schwiegermutter, italienische Schlager und Gemecker auszukommen. Ihm fiel ein, daß Riitta Nelli oft am Klavier begleitet hatte, wenn die auf der Geige übte. Es ärgerte ihn, daß Nelli mit Riitta eine Frau als Vorbild und eine musikalische Begleiterinverlor, und es wurmte ihn auch, daß jetzt erneut alle Pflichten des Alleinerziehenden auf seinen Schultern lagen.
Ratamo lebte nun wieder allein, und das war gut, so fühlte er sich am wohlsten. Mit ihm stimmte sicher etwas nicht, da er nie das Gefühl hatte, irgendwohin zu gehören. Ob in der Gesellschaft anderer oder allein, ob in einer Beziehung oder als Junggeselle – er fühlte sich stets in gleicher Weise einsam.
Auf dem Tisch knisterte etwas. Ratamo drehte vorsichtig den Kopf und starrte in die dunklen Augen einer Maus, die mit zitterndem Schnurrbart etwa einen Meter entfernt auf dem Tisch herumschnupperte. Der Nager verlor als erster die Nerven und huschte zur Wand, es raschelte, und die Maus war verschwunden.
Als Ratamo an seinen Vater denken mußte, hatte er das Gefühl, daß die Sorgen ihn nun gänzlich überrollten. Der Alte hatte im Frühjahr seine Villa in Spanien verkauft, war nach Finnland zurückgekehrt und hatte sich das erste Mal seit Jahren bei ihm gemeldet. Er wolle sich mit ihm treffen und müsse mit ihm reden, hatte der Vater gesagt. Lange konnte Ratamo ihm nicht mehr ausweichen, er würde sich mit ihm treffen müssen. Die Vorstellung fand er nicht gerade reizvoll, sein Vater hatte sich schon vor etwa dreißig Jahren nach dem Tod der Mutter selbst aus dem Leben seines Sohnes ausgeschlossen. Ratamo hielt solche Entscheidungen für endgültig.
Er vermutete, daß sein Vater krank war. Warum wäre der Alte sonst nach Finnland zurückgekehrt, schließlich kannte er hier auch gar niemanden mehr. Eines wußte Ratamo genau: Sein Vater würde nie zulassen, daß spanische Ärzte an ihm herumfummelten. Die Ursache dafür war nicht der Berufsstolz des ehemaligen Medizinprofessors, sondern reine Pedanterie. Als Junge hatte sich Ratamo ab und zu den voreingenommenen Mist seines Vaters anhören müssen.
Dieser ganze Problemstau erinnerte Ratamo an den August vor drei Jahren, als seine Frau starb, Nelli in Lebensgefahr schwebte und er seine Arbeit als Forscher aufgab. Jetzt brauchte er immerhin nicht um sein Leben zu fürchten. Dennoch erschien ihm alles hoffnungslos. Woran mochte das liegen, fragte er sich, war es die Trennung von Riitta, die Rückkehr des Vaters, der moralische Kater oder alles zusammen? Oder lag es daran, daß derzeit die schlimmsten Erlebnisse der letzten drei Jahre bei der SUPO regelmäßig durch seine Träume und Gedanken geisterten?
Er hatte auch Gewissensbisse, weil er seine Tochter über Mittsommer zu Marketta, seiner Ex-Schwiegermutter, abgeschoben hatte, damit er sich zum Idioten machen konnte. Sein Chef Jussi Ketonen verbrachte das Mittsommerwochenende in Markettas Ferienhaus in Nummi-Pusula. Innerhalb eines Jahres waren der Chef der Sicherheitspolizei und Marketta ein unzertrennliches Paar geworden. Manche Menschen zögerten nicht lange, wenn sie den richtigen Partner fanden.
Reiß dich zusammen! Denk positiv, befahl sich Ratamo, in dem Moment landete eine laut surrende Fliege auf seinem Bauch. Erbost schlug er mit der Hand nach dem Brummer, traf sein Zwerchfell und spürte im Hals ein Anrucken wie im Aufzug. In den Schläfen regte sich der stechende Kopfschmerz.
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