Finnisches Roulette
Verdammte Bestien.
Es dauerte eine Weile, bis sein ganz auf Katerstimmung eingestelltes Hirn etwas Positives herausfinden konnte. Immerhin hatte er im letzten Jahr fleißig studiert, jetzt zeichnete sich das Examen für den gehobenen Polizeidienst schon am Horizont ab, es fehlten nur noch ein paar Prüfungen. Und auch die neue berufliche Laufbahn gefiel ihm immer noch. Die Aufgaben als Ermittler bei der Sicherheitspolizei waren um ein Vielfaches interessanter als die langweilige Arbeit eines Virusforschers. Und in jedem Fall hatte er ja Nelli.Die Arbeit und Nelli waren die einzigen normalen Dinge in seinem Leben, sofern man die Arbeit eines Ermittlers der SUPO als normal bezeichnen konnte.
Erst als Ratamo sich darauf konzentrierte, an seinen Urlaub in drei Wochen zu denken, kehrten seine Lebensgeister zurück. Er würde sich mit Nelli in der Ferienhütte verschanzen. Schon der bloße Gedanke an vier Wochen Stille in der Inselwelt von Tammisaari wirkte entspannend. Auf der Insel Kvarnö war es so ruhig, daß man sogar hören konnte, wie auf dem gepflasterten Weg die Knochen knackten.
Ohne Vorwarnung tauchte vor seinen Augen der Betonbrocken auf, der am Ende des Hanfseils im Wasser hing. Er erinnerte sich an das heftige Anrucken des Seils, an den Sturz ins Wasser und das Gefühl, zu ertrinken. Wenn das Armband seiner Uhr nicht nachgegeben hätte, wäre er möglicherweise bis auf den Grund gesunken und dort geblieben. Bei dieser Vorstellung trat ihm der kalte Schweiß auf die Stirn.
Jemand hämmerte an die Tür. Himoaalto kam gebückt durch die niedrige Speichertür herein und zerrte die Gardine auf. »Es ist um zehn. Einmal kühlen Gerstensaft, bitte sehr«, sagte er und drückte seinem Freund eine eiskalte Flasche Bier in die Hand.
Ratamo hob die Hand vor die Augen, das Tageslicht blendete. In Gesellschaft fühlte er sich gleich wohler, es war hundertmal besser, sich zu unterhalten, als in den eigenen Problemen herumzuwühlen. Er warf einen Blick auf seinen Freund und hoffte, daß er nicht genauso mitgenommen aussah wie Timo. »Die Selbstvorwürfe sind eine Plage, und der K-Virus zehrt einen aus«, klagte Ratamo.
»Ja, so ein Kater ist ein großes Mysterium«, meinte Aalto zustimmend.
»Quatsch. Warum das Schnattern der Wildente kein Echo hat, das ist ein Mysterium«, erwiderte Ratamo.
Der Kommentar regte Himoaalto dazu an, mehrere unverständliche Theorien über die Anatomie der Wildenten vorzutragen. Der Vogelfreund und eingefleischte Liebhaber von Tauchenten fand einen fließenden Übergang zu anderen geflügelten Tieren, und so durfte sich Ratamo eine ornithologische Vorlesung über die Vogelarten der Schärenwelt und einen langen Bericht über den Raubwürger anhören, den Aalto vor einer Woche in der Nähe von Mikkeli beobachtet hatte.
Ratamo erholte sich weiter, als er die Flasche Bier geleert hatte und feststellte, daß die Tabletten wirkten. Das Hungergefühl bewies, daß es ihm wieder besserging. Seiner Stimmung tat es auch gut, daß Aalto mit dabei war. Timo geriet das erstemal wieder auf Abwege, seit er vor einem Jahr nach seinem Rausschmiß bei der Datensicherheitsfirma SH-Secure monatelang getrunken hatte. Himoaalto war ohne Zustimmung seiner Frau ausgerückt, um Mittsommer zu feiern: Seiner Meinung nach war es einfacher, hinterher um Verzeihung zu bitten.
Das Sonnenlicht blendete Ratamo für einen Augenblick, als er mit unsicheren Schritten hinaustrat. Er fuhr sich mit beiden Händen über seine dunklen kurzen Haare und die dichten Augenbrauen und räkelte sich genußvoll. Nach dem kühlen Frühsommer wußte man die wunderbare Wärme der Sonne, eine Wohltat für Knochen und Muskeln, noch mehr zu schätzen als sonst. Er lief mit kleinen Schritten zum Bootssteg, zog die Unterhosen aus, sprang ins Meer und spürte, wie er sich auf einen Schlag besser fühlte, als das achtzehn Grad warme Wasser seinen Puls beschleunigte. Ruhig schwamm er etwa zwanzig Meter hinaus, hielt sich dann mit den Füßen über Wasser und bewunderte eine Wildente und ihre Küken, die in dichter Formation vorbeipaddelten. Er ließ sich einen Augenblick auf dem Wasser treiben und betrachtete seine Zehen, danachkehrte er planschend und spritzend langsam wieder ans Ufer zurück und setzte sich auf die Terrasse der Blockhaussauna, um die Ruhe der sommerlichen Insellandschaft zu genießen.
Nachdem Ratamo Shorts und T-Shirt angezogen hatte, holte er die Kautabakdose aus der Tasche, steckte sie aber wieder ein, als ihm der
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