Finns Welt - 01 - Finn released
vor ihrer Tür ein Unfall gewesen wäre.«
»Die alte Schepers ist nicht da. Ihre Wäsche hängt zu lange draußen. Normalerweise nimmt sie die nach spätestens drei Tagen von der Leine. Immer. Vielleicht ist sie im Krankenhaus. Sie ist immerhin sehr alt.«
»Und wenn Frau Kobol deinen Vater fragt?«
»Wenn, dann tut sie das erst nach der Schule. Wir haben heute bis eins, sie hat bis drei. Da habe ich genug Zeit, meinen Vater in das Drehbuch einzuweihen.«
»Clever«, sagt Flo und zuckt beim Spielen mit dem Kopf, die fast kreisrunden braunen Augen starr auf den Klappmonitor gerichtet. Man weiß nicht genau, ob er mich damit meint oder den Schachzug des Computergegners in der Schlacht.
»Und dein Alter macht so was mit?«, fragt Lukas.
Ich grinse. »Na ja, wie heißt es doch so schön? Lügen wie gedruckt, oder?« Lukas hebt die Augenbrauen, aber das blöde Wortspiel konnte ich mir einfach nicht verkneifen. »Meine Mutter findet das nicht so lustig«, füge ich hinzu.
»Du vergisst den Förster«, sagt Flo und hat seine Schlacht wohl gewonnen, denn er guckt endlich hoch. Mit seinen Sommersprossen sieht er nicht gerade wie ein Feldherr aus.
»Meinst du?« Ich ziehe mein Handy aus der Tasche, wähle die Nummer, die ich heute Morgen, als die beiden sich umzogen, aus dem Telefonbuch rausgesucht habe, und sage: »Ja, guten Morgen, Finn Anders hier, spreche ich da mit dem Forstamt? Ich muss Ihnen einen Unfall melden.«
DIE DRUCKEREI
»Du, Papa, wir beide hatten heute Morgen einen Rehunfall.«
Mein Vater schaut hinter einem Regal hervor. In einem Karton liegen fertig gedruckte Werbezettel, die niemals abgeholt wurden, weil der türkische Imbiss, der sie bestellt hatte, schon wieder geschlossen hat. Das Regal ist aus Metall und eigentlich für Lagerräume oder Garagen gedacht. Es ist aus dem Baumarkt. Früher standen hier schöne alte Holzregale, aber die hat Papa abgeschafft. Angeblich hatten sie einen Holzwurm, aber ich habe nie irgendwelche Löcher gesehen. Ein einziges Holzregal hat er allerdings übrig gelassen: das hinter seinem Schreibtisch in der Ecke. Sein Schreibtisch in der Ecke hat mit der Druckerei nichts zu tun. Dort sitzt er abends oder nachts und schreibt per Hand einen Roman, mit einer hübschen alten Feder. Er schreibt den Roman »seit fünfzehn Jahren«, wie Mama immer sagt. In den letzten Monaten ist er allerdings damit gut vorangekommen, denn in der Druckerei ist kaum noch was zu tun. Und selbst wenn, macht es meinem Vater keine Freude. »Wieder bloß so ein Werbezettel«, grummelt er dann dabei, »am Ende holen sie ihn nicht mal ab … grummel, grummel.« Ich finde es schlimm, dass unsere Druckerei kaum noch Aufträge bekommt, aber dass mein Vater schreibt, gefällt mir. Er schimpft kaum, wenn ich draußen meine Lügengeschichten austeste. Er ist selbst ein Erzähler.
»So, so, wir hatten also einen Rehunfall?«
»Ja, Papa. Wir haben einem Verein in Niersfeld Werbezettel gebracht, so gegen halb sieben. In der Kurve gegenüber von Frau Schepers’ Haus ist uns ein Reh vor die Stoßstange gelaufen. Flo, Lukas und ich haben es später im Feld gesucht. Deswegen sind wir erst zur zweiten Stunde gekommen.«
»So verhält sich das also«, sagt mein Vater.
Ich nicke.
»Du hast bestimmt schon den Förster angerufen, der jetzt umsonst sein Revier absucht.«
»Okay, erwischt. Aber so viel hat ein Förster auch nicht zu tun. Das bisschen Bewegung tut ihm bestimmt gut.«
Mein Vater schüttelt den Kopf und presst ein wenig die Lippen zusammen. Er muss natürlich so tun, als sei mein Verhalten verwerflich. Ich sehe, wie er versucht, nicht zu schmunzeln. Schließlich seufzt er, steht auf und kratzt sich am Hinterkopf. »Die alte Schepers ist übrigens im Krankenhaus«, sagt er. »Hexenschuss. Ihre Kinder haben es mir erzählt. Sie müssen noch die Wäsche von der Leine abhängen.«
»Hab ich mir gedacht«, sage ich.
Wir gehen rauf in die Küche. Meine Mutter sitzt am Tisch und hat den Laptop aufgeklappt. Sie tippt Summen von Rechnungen ab und gibt sie in die Eingabemaske des Onlinebankings ein.
»Schatz«, sagt mein Vater, »gib mir doch einfach die Rechnungen und ich gehe damit zur Bank.«
»Mach dir keine Sorgen, das ist sicher«, erwidert meine Mutter, denn mein Vater hat Angst vor fast jeder neuen Technik. Er besitzt kein Handy und er weigert sich beharrlich, im Auto ein Navi zu benutzen.
»Im Gewerbepark gibt es eine neue Firma«, sagt meine Mutter, ohne ihre Augen vom Bildschirm zu lösen.
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