Finns Welt - 01 - Finn released
Morgen habe ich mit ihm eine dringende Lieferung ausgefahren. Werbezettel für einen Verein hinten in Niersfeld. Das haben wir noch vor der Schule gemacht.« Frau Kobols Haltung entspannt sich etwas. »In der Kurve vor dem großen Acker von Bauer Brockmeyer, gegenüber von Frau Schepers’ Haus, da ist uns ein Reh vor das Auto gelaufen. Es war noch halb dunkel. Wir kamen ins Schlittern und haben die Leitschilder gestreift, das Reh flog auch kurz dagegen und dann wieder auf die Straße. Wir konnten kaum gucken, da lief es schon davon, auf den Acker. Es humpelte, aber es war trotzdem total fix verschwunden. Das hat sich furchtbar angefühlt, dieser Aufprall … Es ging durch den ganzen Wagen. Man konnte sich richtig vorstellen, wie in dem Fleisch die feinen Knochen splittern.«
Die Klasse, die eben noch begann, unruhig zu werden, ist jetzt wieder voll bei mir. Nur Dustin zischt verächtlich durch die Zähne, aber ich ignoriere ihn und rede weiter. »Ich glaube, es gab auch Blut, aber ich weiß nicht genau. Es ging alles so schnell. Und die Augen, die hab ich für eine Sekunde gesehen. Weit aufgerissen waren sie, wie bei einem stummen Schrei.«
Frau Kobol schaut betroffen. Das war ein gutes Bild, das mit dem stummen Schrei. Wer will, dass man seine Geschichten glaubt, braucht gute Bilder. Und viele Details. Das ist wichtig. Ich mache weiter. »Ja, jedenfalls, ein bisschen später dann, im Hellen, haben Lukas, Flo und ich noch mal den ganzen Acker abgesucht, bis zum Waldrand. Das geht einem ja nicht aus dem Kopf, so was. Das tut einem doch leid, das Tier! Ich hab den Förster angerufen, aber der meinte, wenn das Reh so schnell weglaufen konnte, sei schon nichts passiert. Er sucht aber auch noch mal das Revier ab.«
Wüsste ich es nicht besser, könnte man denken, Frau Kobol hat vor Rührung fast Tränen in den Augen. Sie weiß nicht, was sie jetzt machen soll, da sie uns eigentlich fürs Zuspätkommen eintragen muss. Für eine Sekunde schaut sie in die Klasse, als müsste sie sich von den anderen Schülern eine Erlaubnis holen. Dann macht sie einen Schritt vor, als wolle sie mir den Kopf tätscheln, lässt es aber und sagt nur: »Seht ihr? Das ist auch Verantwortung.« Die Klasse sieht es wohl ähnlich, nur Dustin sagt: »Schade, ich dachte, heute gäbe es Rehragout zum Mittag.« Es lacht niemand. Dustin macht ab und zu krasse, spannende Sachen, die sich sonst keiner traut, aber mit seinen Witzen ist er oft allein. Er trägt ein Armkettchen aus Silbergelenken und spuckt oft auf den Boden. Er lebt an der Kreuzung in dem großen Haus mit den fünfzig Briefkästen und den unzähligen Satellitenschüsseln. In unserer Siedlung nennen viele die Bewohner dort auch einfach nur Satellitenmenschen. Frau Kobol klappt das Buch, in das sie unsere Verspätung eintragen wollte, wieder zu.
»Wie kriegst du das hin, dass dir immer alle glauben?«, fragt mich Lukas in der Pause und trinkt aus seiner Flasche Wasser. Ich trinke Kakao, denn ich will später nicht auf ein Fußballinternat und habe keine Angst, zu viel zuzunehmen. Außerdem bekomme ich sowieso nie so einen Körper wie Lukas, egal, was ich mache. Lukas hat im Grunde ein Sixpack, stahlharte Bauchmuskeln. Es sieht aus wie bei Mario Gomez, wenn er sein Trikot hochzieht. Flo interessiert meine Antwort ebenfalls, auch wenn es nicht so aussieht, weil seine kleine, runde Knollennase ganz eng vor dem Bildschirm seines Nintendo DS klebt. Im Schacht steckt Final Fantasy XII – Revenant Wings.
»Ich habe es euch doch schon so oft erklärt«, sage ich. »Du musst genau hingucken, was um dich rum ist, und du musst dir klarmachen, wie die Menschen sind. Was sie mögen. Wie sie so ticken halt. Dann brauchst du nur noch ein bisschen Fantasie.« Lukas grüßt einen Fußballkollegen am anderen Ende des Schulhofs, aber er hört zu. Flo kratzt mit dem Stylus auf seinem kleinen Schlachtfeld herum. Ich erkläre weiter: »Mir ist aufgefallen, dass Dellen in den Schildern waren und rote Spritzer. Und Bremsspuren auf der Straße. Wir sind über den Acker gelaufen, also hat man uns heute Morgen dort vielleicht gesehen. Frau Kobol wohnt in der Nähe und sie mag Tiere. Wenn sie nachher auf dem Heimweg an der Kurve vorbeikommt, sieht sie die zerbeulten Schilder. Ein verletztes Reh tut ihr auf jeden Fall leid. Sie ist im Tierschutzverein. Das ist alles echt. Nur der Unfall, der ist dann das bisschen Fantasie.«
»Und was ist, wenn sie die alte Frau Schepers fragt? Die hätte doch gemerkt, wenn
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