Finns Welt - 01 - Finn released
»Die machen Produktbeschreibungen. Man bekommt einen neuen Mixer auf den Tisch und dann muss man dazu kleine Werbetexte verfassen. Für Kataloge oder für E-Bay. Das geht sogar von zu Hause aus.«
»Ach, Sabine«, seufzt mein Vater.
»Ich habe mich bei denen beworben.«
»Das musst du doch nicht«, wiegelt mein Vater ab, aber er weiß, dass sie es doch muss, weil die Druckerei nicht gut läuft. Vor meiner Geburt war meine Mutter Werbetexterin.
Ich schnappe mir eine Rechnung vom Tisch. Sie ist von der Autoversicherung. Jahresbeitrag: 752,60 Euro.
»Soll ich da anrufen und denen eine Geschichte erzählen?«, frage ich und überlege mir schon, was ich mir Dramatisches ausdenken könnte.
»Du sollst deine Hausaufgaben machen«, erwidert meine Mutter.
»Ich ruf da an«, sagt mein Vater.
»Ruf lieber bei allen Geschäften im Ort an und überzeuge sie, dass sie in einer Kleinstadt wie unserer echte Papierwerbung brauchen und nicht bloß eine Homepage«, schlägt meine Mutter vor.
»Ja, und dann sind sie wieder bankrott, bevor sie ihr Zeug abholen. Außerdem hat das doch alles nichts mehr mit dem Druckhandwerk zu tun. Flugblätter für dubiose Spielhallen …!«
»Du bist zu griesgrämig, Klaus«, sagt meine Mutter, »vielleicht bleiben auch deshalb die Kunden aus.«
»Weil ich hier unter uns griesgrämig bin, kommen keine Kunden mehr?«
»Ja, Klaus. Die spüren das. Man muss dankbar sein für seinen Beruf und das, was man hat. Wenn man nicht mehr dankbar ist, schadet das.«
Mein Vater seufzt und gibt meiner Mutter einen Kuss auf den Kopf. Er glaubt nicht, was sie da sagt, aber er hat sie lieb. Genau wie ich. Sie kann die Autorechnung nicht bezahlen und will deshalb einen Job annehmen. Dafür bewundere ich sie.
Ich wünschte mir, meine Lügen könnten auch in solchen Situationen etwas bewirken. Ich wünschte mir, mein Vater würde seinen Roman vollenden und einen Riesenbestseller damit landen. Ich wünschte mir, ich hätte eine gute Idee für die Wirklichkeit.
DER FELGAUFSCHWUNG
»Ronaldo! Jetzt stell dir das doch mal vor! Er hat gegen Ronaldo gezockt!« Lukas zerrt in der Sportumkleide an Flo herum, damit der seine Begeisterung begreift. Tut er aber nicht. Er muss noch schnell etwas auf seinem DS-Bildschirm beenden. Umgezogen ist er schon. Seine kurzen Beine wachsen aus den Hosen wie kleine krumme Baumstämme. Er hat bereits viele dunkle Haare. Mein Flaum auf den Beinen ist blond, wie auch mein »Schopf«. So nennt das meine Mutter immer, was ich gar nicht leiden kann. Ich habe halt keine Lust auf so eine mathematische Kurzhaarfrisur wie Flo. Und Lukas’ Justin-Bieber-trifft-Diego-Frisur steht ihm mit seinen dunklen Haaren wirklich gut, würde bei mir aber albern wirken.
»Flo, du Märchenbock! Hörst du, was ich sage? Unser Sportlehrer hat 1994 gegen Ronaldo gespielt. In Holland, beim PSV Eindhoven. Er hat dreißig Tore gemacht. Also, Ronaldo, nicht Herr Broich. Der hat damals beim VVV Venlo gespielt. Er war immer bei den kleinen Klubs, aber er war ein Profi und er hat tatsächlich gegen Ronaldo gespielt. Ich wusste ja schon, dass er eine echte Karriere hatte, aber das habe ich erst gestern im Netz herausgefunden.«
Flo versucht verzweifelt, seine Aufgabe auf dem DS zu beenden, aber Lukas schüttelt ihn so sehr, dass sein Stylus hinfällt. Flo klatscht die Konsole wütend auf seinen Rucksack und sieht Lukas an. »Ja, toll, danke! Das Labyrinth kann ich heute Mittag noch mal ganz von vorn machen.«
Lukas schüttelt den Kopf. »Du bist so bescheuert, echt.« Er geht in die Halle.
Ich kenne mich mit Fußball zwar nicht so gut aus wie Lukas, aber ich finde es auch beeindruckend, dass unser Sportlehrer ein Profi war. Ich stelle mir vor, Frau Kobol, bei der wir Religion und Erdkunde haben, wäre zwanzig Jahre lang eine Nonne gewesen. In einem weißen Gewand schreitet sie still durch die schattigen Gänge eines weißen Flures in Spanien, während ein paar junge Novizinnen ihr folgen wie Geister. Sie liest Latein, Griechisch und Hebräisch. Oder sie wäre Archäologin. Mit einem Tuch auf dem Kopf und einer Sonnenbrille, in der sich die Berge spiegeln, kratzt sie im heißen Wüstensand herum. Dann erkennt sie, dass der Stein, der sich gerade zeigt, die Spitze eines alten Palastes ist, der hundert Meter tief unter ihr im Sand steckt. Wenn dem so wäre, hätten wir alle mehr Respekt vor Frau Kobol. Und mehr Bock auf Religion und Erdkunde.
Herr Broich ist unser Lieblingslehrer, aber heute macht er mit uns das
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