Finster
ich. »Die Stadt ist voll davon.«
»Halb voll«, korrigierte sie mich.
»Hast du keine Angst vor ihnen?«
»Sie tun niemandem was.«
Ich traute meinen Ohren nicht.
»Wirklich nicht?«
Sie verzog den Mundwinkel zu einem Lächeln. »Sie tun niemandem was, solange sie keinen erwischen. Wenn sie dich doch erwischen, vergiss es.«
»Was machen sie dann?«, fragte ich.
»Sie schnappen dich. Und das war’s dann. Du bist verschwunden. Außer, du entkommst ihnen. Einmal haben sie mich fast erwischt. Das war ziemlich zu Beginn meiner nächtlichen Streifzüge. Ich wusste es nicht besser und wollte dem Mann helfen. Muss so gegen drei Uhr morgens gewesen sein. Er sah aus wie ein typischer Obdachloser und ging mit seinem ganzen Kram in einem Einkaufswagen mitten auf der Straße lang. Ich war auf dem Bürgersteig, er kam mir entgegen, und wir liefen aneinander vorbei. Ich war schon bereit loszurennen, aber er ging weiter. Weißt du, wie laut diese Einkaufswagen sind?«
»Ja, klar.«
»Plötzlich hörte das Geräusch auf. Ich drehte mich um, um zu sehen, was los war. Der Typ lag einfach auf der Straße und bewegte sich nicht. Also bin ich hingegangen und wollte sehen, ob ich ihm helfen kann.« Sie schüttelte den Kopf. »Blöde Idee.«
Mittlerweile hatten wir das Outfield überquert und erreichten
den Kinderspielplatz. Ich versuchte, die dunklen Schatten mit den Augen zu durchdringen, konnte aber niemanden herumstromern sehen, keine seltsamen Gestalten auf den Parkbänken, niemand auf den Schaukeln, Gerüsten, Rutschen, Wippen oder Karussells, niemand sonst wo in der Nähe.
»Als ich mich bückte, um dem Mann zu helfen«, sagte Casey, »hat er mir eine Flasche auf den Kopf geschlagen. Jedenfalls glaub ich das. Sein Zusammenbruch … oder was auch immer … war nur gespielt, um mich anzulocken. Er hat mich k. o. geschlagen. Als ich wieder aufgewacht bin, lag ich in seinem Einkaufswagen. Der Wagen war vorher bis oben hin vollgestopft gewesen, er musste also einen Teil seiner Sachen weggeworfen haben, um Platz für mich zu schaffen. Wahrscheinlich fand er, ich wäre eine bessere Sorte Müll.«
Wir gingen hinüber zu den Schaukeln. Casey setzte sich auf eine davon. Ich blieb etwas seitlich vor ihr stehen.
»Er hatte nicht alles von seinem Schrott rausgeworfen«, erklärte sie. »Ich konnte das Zeug unter meinem Rücken spüren.«
»Wie hast du da reingepasst?«
»Es war ein ziemlich großer Wagen«, sagte sie. Lächelnd stieß sie sich mit den Füßen vom Boden ab und schwang ein wenig vor und zurück. »Ich hab nur vom Kopf bis zum Hintern reingepasst. Meine Beine ragten raus, und meine Füße baumelten vor dem Wagen. Jedenfalls war ich ziemlich erschrocken, als ich gemerkt habe, in was für einer Lage ich steckte …«
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Wenn man in einem Einkaufswagen hängt, kann man nicht so leicht entkommen. Ich konnte nicht einfach rausspringen und wegrennen, deshalb habe ich mich ohnmächtig gestellt.«
»Du musst Todesangst gehabt haben.«
»Einerseits ja, andererseits auch nicht. Ich habe vorher schon schlimme Sachen erlebt und immer unbeschadet überstanden … mehr oder weniger. Deshalb dachte ich, ich schaff’s auch dieses Mal.«
»Ich glaub, du hast es tatsächlich geschafft«, sagte ich.
»Anscheinend.« Sie lächelte zu mir auf. »Sonst wäre ich nicht hier.«
»Wie bist du entkommen?«
»Tja, ich habe gehofft, dass jemand uns sehen und ihn aufhalten würde. Ein Polizist zum Beispiel. Ich meine, jeder, der uns auch nur einen zweiten Blick zuwarf, hätte mich in dem Einkaufswagen entdeckt. Er hat sich überhaupt keine Mühe gegeben, mich zu verstecken. Ich lag ganz offen da.«
»Um drei Uhr morgens«, fügte ich hinzu.
»Genau. Aber es ist ja nicht so, dass niemand um diese Zeit unterwegs wäre. Das weißt du.«
»Klar.«
»Einmal habe ich einen Jogger gehört. Und ich hatte den Eindruck, ein Fahrradfahrer wäre vorbeigefahren. Ein paar Autos habe ich auch gehört. Ich glaub, der Jogger und der Radfahrer kamen direkt neben uns auf der Straße vorbei. Die Autos nicht, ich habe sie über Kreuzungen in der Nähe fahren hören. Niemand hat etwas gesagt oder getan. Sie sind einfach ihrer Wege gegangen.«
»Vielleicht haben sie dich nicht gesehen.«
»Die Hälfte war wahrscheinlich selber verrückt.«
Ich grinste. »Ja.«
»Jedenfalls hatte der Mann mich schließlich da, wo er mich haben wollte. Er hat den Einkaufswagen umgekippt und mich rausgeworfen, aber er musste gemerkt
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