Finstere Propheziung
anderer. »Er weiß ja nicht einmal, wo sie sind!« Dieser letzte, mürrische Einwand kam erneut von Sinon.
»Und dennoch!« Ileanas schrille Stimme brachte Thantos' Gefolgschaft zum Schweigen. »Es gab keinen Grund, weshalb sie sich hätten begegnen sollen. Karsh ist dafür verantwortlich.«
»Na gut«, gestand er ein. »Aber was hätte ich anderes tun können? Eine von ihnen hatte ihre Beschützerin verloren. Die andere ahnte bereits, dass sie adoptiert war. Außerdem hatten sie schon zuvor ... nun ja, sagen wir einmal, ihre Kräfte erprobt - und keine von beiden hätte dieses Erlebnis ohne weiteres vergessen.«
»Was genau ist denn geschehen?«, fragte Lady Rhianna interessiert.
Karshs blasse Augen füllten sich mit Stolz. »Ihr hättet sie sehen sollen. Sie waren wunderbar.«
»Wunderbar?« Ileana grinste höhnisch. Der bejahrte Hexer ignorierte sie. »Sie haben eine Familie davor bewahrt, in den sicheren Tod zu stürzen«, fuhr er begeistert fort. »Ein verzweifeltes Kind mit Hilfe einer Beschwörung getröstet ...«Er unterbrach sich, bevor er zu viel verraten würde. »Aber das ist noch nicht das Wichtigste. All ihre Handlungen entsprangen ihrem Herzen, ihrem tiefen Bedürfnis, Menschen zu helfen.« Ileana verlor die Beherrschung. »Und indem sie so handelten, brachten sie sich selbst in Gefahr. Das Böse wird sie aufspüren!«
Karsh wusste, dass er sich nur schaden würde, wenn er jetzt trotzig reagierte. Leise erklärte er: »Ich habe Artemis etwas gegeben, womit sie sich verteidigen kann.« Ileana verdrehte ihre verblüffenden grauen Augen. »Ihr habt ihr ein paar Zaubersprüche vorgesagt. Als ob das ausreichen würde!« Nun war es Karsh, der sich nicht mehr zurückhalten konnte. »Sie hat dieses Wissen unverzüglich mit ihrer Schwester geteilt. Und gemeinsam haben sie es bereits sinnvoll eingesetzt. Ich bitte euch - hört Ihr mir denn nicht zu?« Lady Rhianna erhob sich von ihrem Stuhl, stieg hoch in die Luft hinauf und schwebte schließlich über Karsh und Ileana. »Hört mich an, alle beide. Karsh ... da Ihr der Ältere seid, solltet Ihr dies ohnehin wissen: Wenn Zwillinge voneinander getrennt werden, verlieren sie viele ihrer angeborenen Fähigkeiten. Wenn sie sich zum ersten Mal begegnen, entsteht zunächst ein elektrisches Feld zwischen ihnen, eine Art EnergieFeuerwerk, das ihnen den Eindruck vermittelt, über voll ausgereifte Begabungen und unermessliche Kräfte zu verfügen. Doch ohne Übung, ohne Anleitung wird dieser erste Schub langsam verglühen. Versteht Ihr mich?«
»Verglühen? Was soll das heißen?«, fragte Ileana. »Solange die Zwillinge ohne einen Lehrmeister sind, der sie in die Kunst der Magie einweist, werden ihre Fähigkeiten auf ein Minimum beschränkt bleiben. Woher wollt Ihr wissen, Karsh, dass ihre Kräfte nicht schon jetzt verebben?« Ileana versuchte, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen, doch sie konnte Karsh nicht täuschen. »Und was bleibt ihnen dann noch ?«
»Nun, sie werden natürlich einige Fähigkeiten behalten, die sie schon bei der Geburt hatten, doch diese werden nicht so ausgefeilt sein. Sie werden keine Kontrolle darüber haben. Ihre Versuche, die Kunst des Hexens auszuüben, ihr äußerst dilettantischer Umgang mit der Magie könnte unter Umständen fürchterliche Folgen haben. Schutzlos werden sie -«
»Aber sie sind doch nicht schutzlos«, unterbrach Karsh. »Ich habe Artemis ihre Kette wiedergegeben, das goldene Halbmond-Amulett, das ihre Eltern vor -«
»Vor dem bedauerlichen Zwischenfall -«, warf Rhianna ein. »Bevor Thantos ihren Vater tötete!«, schrie Ileana. Verstörtes Murmeln lief wie eine Welle durch die große Halle.
»Ich habe ihr die Kette gegeben«, versuchte Karsh, sich über dem Tumult Gehör zu verschaffen. »Und ich ...« Er senkte den Blick. Er konnte Ileana jetzt nicht in die Augen sehen. »Und ich habe Apollas Kette nie an mich genommen. Sie trägt sie seit sie ein Kind war. Der Schmuck wird ihnen einen gewissen Schutz geben... « Ileana war außer sich vor Zorn. »Seid Ihr verrückt? Begreift Ihr es denn nicht, alter Hexer? An ihren Amuletten wird Thantos sie erkennen. Mit jedem Mal, wo sie ihre Kräfte einsetzen, wird er ein Stück näher an sie heranrücken.«
»Er hat sie bereits zusammen gesehen«, musste Karsh eingestehen. »Ihr kennt ihn nicht«, rief Sinon laut. »Er hat nichts Böses im Sinn!«
»Du kennst ihn nicht!«, fuhr Ileana ihn an. Lady Rhianna stieg noch höher in die Luft über der Bühne des
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