Finsteres Verlangen
Fingern.
»Ich dachte, wir hätten noch nicht fertig ausgehandelt, wie viele Leute sie mitbringen darf.«
»Hatten wir auch nicht.« Da klang so viel Jammer mit, dass man ihn hätte auswringen können. Jean-Claude konnte mit seiner Stimme Freude und Verführung spüren lassen, Asher verstand es besser, die dunkleren Emotionen mitzuteilen.
Ich sah ihn an. Er blickte mit starrem Gesicht geradeaus und verbarg, was er fühlte. »Hat sie dann nicht irgendein Abkommen oder Gesetz gebrochen, weil sie einfach in unser Territorium eingedrungen ist?«
Er nickte. Seine Haare fielen nach vorn und verdeckten nun auch die makellose Seite. Ich bedauerte es sehr, wenn er seine Narben vor mir verbarg. Ich fand ihn mitsamt der Narben schön, doch er glaubte es mir nicht so ganz. Vermutlich dachte er, ich fände ihn halb aus Mitleid und halb aufgrund von Jean-Claudes Erinnerungen anziehend. Mitleid war nicht im Spiel, aber das mit Jean-Claudes Erinnerungen konnte ich nicht bestreiten. Ich war sein menschlicher Diener, und das hatte für mich alle möglichen interessanten Nebeneffekte. Einer davon war der Einblick in sein Gedächtnis.
Ich wusste, dass sich Ashers Haut, jeder makellose Zentimeter, unter den Fingerspitzen wie kühle Seide anfühlte. Doch es waren Jean-Claudes Finger, die die Berührung genossen hatten, nicht meine. Dass ich das Gefühl von Ashers Haut so stark in Erinnerung hatte und sogar jetzt den Drang spürte, nach seiner Hand zu greifen, nur um zu sehen, ob es zutraf, war nur eine der Seltsamkeiten, mit denen ich leben musste. Wäre Jean-Claude bei uns gewesen, hätte er ihn jedoch auch nicht angefasst. Es war Jahrhunderte her, seit sie mit Julianna, Ashers menschlichem Diener, in einer Ménage-à-trois gelebt hatten. Julianna war von denselben Leuten als Hexe verbrannt worden, die Asher das Böse mit Weihwasser hatten austreiben wollen. Jean-Claude hatte Asher noch retten können, nicht aber Julianna. Asher hatte ihm das Zuspätkommen nie verziehen und Jean-Claude sich selbst auch nicht.
»Wenn Musette gegen ein Gesetz verstoßen hat, können wir sie dann nicht bestrafen oder rauswerfen?« Ich war jetzt an der Ausfahrt des Friedhofs angekommen und achtete zu beiden Seiten auf den nicht vorhandenen Verkehr.
»Wenn es ein anderer Meistervampir wäre, hätten wir das Recht, ihn zu töten, aber es ist Musette. Wie du Bölverkr der Werwölfe bist, ist sie Belles …« Er suchte nach dem richtigen Ausdruck. »Mir fällt das englische Wort nicht ein. Im Französischen heißt es bourreau . Sie ist unser Buhmann, Anita, und das schon seit über sechshundert Jahren.«
»Schön«, sagte ich. »Sie ist furchterregend, das sehe ich ein, doch das ändert nichts an der Tatsache, dass sie einfach eingedrungen ist. Wenn wir ihr das durchgehen lassen, wird sie mehr versuchen.«
»Anita, es geht nicht nur darum. Sie ist …« Wieder suchte er nach Worten. Dass sein englischer Wortschatz plötzlich solche Lücken hatte, zeigte, wie groß seine Angst war. » Vaisseau – wieso fällt mir das englische Wort nicht ein?«
»Du bist aufgeregt.«
»Ich habe Angst«, sagte er. »Belle Morte schickt Musette als Gefäß ihrer selbst. Musette etwas zu tun heißt Belle etwas zu tun.«
»Buchstäblich?«, fragte ich, während ich auf die Mackenzie einbog.
»Non, es hat mehr mit Anstand als mit Magie zu tun. Sie hat Musette ihren Siegelring gegeben, das heißt, Musette spricht an Belles statt, und wir sind gezwungen, sie zu behandeln, als wäre sie Belle Morte persönlich. Damit haben wir überhaupt nicht gerechnet.«
»Welchen Unterschied macht es, dass sie Belles Vaisseau ist?«, fragte ich. Wir standen an der Ampel an der Watson mit Blick auf McDonald’s und die Union Planters Bank.
»Wenn sie es nicht wäre, könnten wir sie für den Abbruch der Verhandlungen und das Eindringen bestrafen. Aber so wäre das, als bestraften wir Belle selbst.«
»Na und? Warum sollten wir Belle nicht dafür bestrafen können?«
Darauf blickte er mich an, doch ich musste in dem Moment auf den Verkehr achten, weil die Ampel umsprang. »Dir ist nicht klar, was du da sagst, Anita.«
»Dann erkläre es mir.«
»Belle ist unser Sourdre de Sang , unser Urquell. Sie ist das Oberhaupt unserer Blutlinie. Wir dürfen ihr nichts tun.«
»Warum nicht?«
Er drehte den Kopf und ließ die Haare nach hinten gleiten, sodass ich endlich sein ganzes Gesicht sah. Ich glaube, meine Frage entsetzte ihn zu sehr, als dass er darauf achtete, die Narben zu
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