Firkin 05 - Fahrenheit 666
wenigstens einen vernünftigen Roman zum Lesen gehabt hätte … Doch hatte er schon vor zig Jahren seine Mitgliedschaft im Handschriftenklub gekündigt, als man es gewagt hatte, ihm diesen … diesen unbeschreiblichen Schund zu schicken. Ähm, um welchen Titel hat es sich dabei eigentlich noch mal gehandelt?
Sein alkoholumnebelter Verstand torkelte etwa dreißig Jahre durch die verstaubten Archive seines Gedächtnisses zurück, und allmählich, ganz allmählich, kamen erste, längst verblaßte Erinnerungsfetzen zum Vorschein:
Er war gerade wieder einmal mit dem Reinigen von Kerzenständern beschäftigt gewesen und hatte das Geräusch zunächst nicht richtig einordnen können. Irgend etwas klopfte damals mit dem Fingerknöchel zweimal gegen die Eichentür. Doch als gleich darauf wieder tiefste Stille einkehrte, blickte er nur kurz von dem wachsbeschmierten Messing auf, das er gerade putzte, und hielt nach den Ratten Ausschau. Achselzuckend machte er sich zunächst wieder an die Arbeit, doch plötzlich durchfuhr es ihn heiß und kalt, denn ihm wurde klar, daß dieses Klopfen nur von Fingerknöcheln hatte herrühren können – und das Vorhandensein von Fingerknöcheln ließ auf Menschen schließen! Im Nu schwang er sich über ein halbes Dutzend Kirchenbänke und stürmte mit erwartungsvollem Grinsen auf die Tür zu … Menschenskinder, das waren noch Zeiten! Damals konnte er noch richtig rennen … Er erinnerte sich daran, mit welchem Wonnegefühl er die beiden Türgriffe umfaßte, kräftig daran zog und sich mit einer ausladenden Geste tief zum Gruß verneigte, so daß die in sein Scheitelkäppchen eingewebten Goldborten im Kerzenlicht funkelten.
Erst als er bereits unter Kreuzschmerzen litt und offenbar niemand die Kirche betreten wollte, richtete er sich stöhnend auf und seufzte mißbilligend.
Ich muß mir das alles nur eingebildet haben! dachte er damals vor all den Jahrzehnten.
Doch dann fiel sein Blick auf das kleine rechteckige Päckchen aus Sackleinen, das am Türpfosten lehnte und wider Erwarten tatsächlich an ihn adressiert war. Während er sich noch immer baß erstaunt den blassen runden Kopf kratzte, blickte er sich verstohlen nach allen Seiten um, dann erst schnappte er sich das Päckchen, schlug die Tür zu und zog sich in das nach Rattendreck miefende Chaos der Sakristei zurück.
Wehmütig grinsend nahm er erneut einen Schluck Wein, als er sich jetzt so viele Jahre später daran erinnerte, wie damals beim ungestümen Auspacken des Päckchens seine Hände gezittert hatten und ihm vor freudiger Erwartung sogar Tränen in die Augen geschossen waren.
Endlich! Das mußte der empfohlene Titel des Handschriftenklubs sein … Der neueste literarische Erguß aus der Feder von Jh’leek Hooper. Götz von Öl zitterte aufgeregt. Schon vor Monaten hatte er das Bestellformular ausgefüllt, es seiner letzten, im voraus bezahlten Brieftaube vom Handschriftenklub um den Hals geschnürt und seither auf die Lieferung von Betörende Nymphen reiten auf ungesattelten Poloponys gewartet, und nun war das Manuskript endlich eingetroffen! Welch unverhofftes Glück! Welch unbeschreibliche Freude!
Nachdem er das letzte Stück der Verpackung abgerissen und in eine Ecke geworfen hatte, kam die Rückseite einer Art Ratgeber zum Vorschein. Merkwürdiger Einband, dachte er, dann drehte er die Handschrift um und schrie entsetzt auf, als er den Titel las:
TELEPENETRANZ LEICHTGEMACHT
Mentalsuggestive Gedankenübertragung in vierundzwanzig Lektionen
Der falsche Titel! Diese Schrift hatte er nie und nimmer bestellt. Niemand, der einigermaßen bei Sinnen war, hätte etwas derartig Dämliches und Langweiliges lesen wollen. Er wollte Betörende Nymphen und sonst gar nichts. In einem Anfall jugendlichen Zorns hatte er den Leitfaden damals irgendwo hingeschmissen und vergessen.
Bis heute … Jahrzehnte später, und er hatte buchstäblich alles gelesen, was ihm in dieser kleinen Kapelle zwischen die Finger gekommen war – darüber hinaus war er weit davon entfernt, ganz bei Sinnen zu sein. Verzweifelt sehnte er sich danach, etwas Neues zu lesen, einerlei was. Also sprang er auf, taumelte durch den Raum und machte sich an einem Stapel großer Kisten zu schaffen, der seit etwa dreißig Jahren nicht mehr bewegt worden war. Als während seiner verzweifelten Suche die Kartons durch die Luft flogen, ergriffen unzählige Spinnen die Flucht, gerieten ganze Völkerstämme von Kellerasseln in Panik und wurden gleich mehrere
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