Fischer, wie tief ist das Wasser
die eine ganze Kampagne über den Haufen werfen: Krankheit, Unzuverlässigkeit oder auch nur einfache Unlust. Wir brauchen auf jeden Fall ein Ersatzkind.»
Redenius schnellte nach vorn und schob seine Ellenbogen weit auf die Tischplatte, so als hätte er mich bei einer Dummheit ertappt und fühlte sich wieder auf dem richtigen Platz. «Da kennen Sie unsere Kinder aber schlecht, werte Kollegin. Sie kennen nicht eines von ihnen. Wenn Sie sich schon einmal mit unseren Schülern beschäftigt hätten, dann wüssten Sie, dass wir uns mit keinem dieser aufgezählten Probleme herumärgern müssen.»
Er stand auf, lief durch den hellen, hohen Raum und stellte sich äußerst aufrecht, fast steif, vor das Fenster. «Schauen Sie sich die Kinder hier draußen an, Sie werden sehen, jedes von ihnenist auf seine einzigartige Weise ein Mitglied in einer wunderbar funktionierenden Gemeinschaft geworden.» Er sagte eine Weile nichts, auch alle anderen im Raum schwiegen.
Ich wusste nicht, ob dieser Vortrag nun eine Maßregelung für mich sein sollte, und vor allem, warum er etwas gegen mich hatte, oder ob sich dieser Jochen Redenius einfach nur gern selbst reden hörte. Ich stand trotzdem auf, wenn auch mit wackeligen Beinen, wagte mich ans Fenster, stellte mich direkt an seine Seite und blickte hinaus in den Garten, der hinter dem Haus lag.
Die beiden Jungen, die einen Fußball wild, aber geschickt zwischen den Beinen tanzen ließen, sahen weder nach I Q-Tests noch nach irgendetwas anderem aus, was nicht durch und durch «Kind» war. Sie schienen mit ihren Gedanken in einem riesigen Fußballstadion zu sein, wo die Menge ihnen zujubelte. «Ist einer von den beiden der Junge, den Sie meinten?», unterbrach ich das Schweigen im Raum.
Jochen Redenius schüttelte den Kopf. «Henk Andreesen ist nicht da, er ist mit unserem Prokuristen in der Stadt, beim Kinderpsychologen. Er geht regelmäßig dorthin, wir müssen seine Entwicklung sorgfältig beobachten, schließlich hat sich für ihn eine Menge verändert in letzter Zeit. Der Kleine ist so etwas wie der besondere Schützling unseres Vizechefs Sjard Dieken.»
«Und wer ist dieses Mädchen?» Ich zeigte mit dem Finger auf ein blondes Kind. Sie trug einen etwas zu kurzen Minirock und hatte feine Schrammen an den Waden, so, als wäre sie in unwegsamem Gelände unterwegs gewesen. Sie spielte allein, aber eigentlich spielte sie nicht, sie schien sich mit irgendetwas zu beschäftigen, irgendetwas zu untersuchen. Ihre hellen Haare fielen zerzaust auf das T-Shirt . Eine kleine Abenteurerin, dachte ich. Plötzlich drehte sie sich um, als habe sie im Rücken gefühlt,dass wir sie beobachteten, ich hielt meinen Zeigefinger noch immer auf sie gerichtet. Sie hob ihre breiten Lippen an zu dem typischen Lächeln eines Mädchens, deren Zähne noch etwas zu groß für den Mund waren. Dann winkte sie uns eifrig zu, zeigte auf den Gegenstand, den sie untersucht hatte, und erst jetzt konnte ich sehen, dass es eine Möwenfeder war und ein Mikroskop daneben stand.
«Es ist Gesa Boomgarden, auch ein kleines Wunderkind», sagte Dr. Schewe hinter mir, sie war fast unbemerkt zu uns ans Fenster getreten. «Es ist das Mädchen, welches bis zu seinem achten Lebensjahr nur bei den Eltern gelebt hat. Jetzt ist sie zwölf.»
Ich hatte von diesem faszinierenden Fall vor Jahren gehört. Doch ich hatte etwas anderes erwartet, ein verwirrtes Kind mit Kaspar-Hauser-Blick und einer ängstlichen, zusammengekrümmten Gestalt. Stattdessen lachte mich ein offenes, vollkommen normal wirkendes Mädchen an, eines von der Art, wie man sie morgens zu Dutzenden auf den Schulbus warten sieht. «Es ist fast nicht zu glauben, dass so etwas heutzutage noch möglich ist», sagte ich, ohne den Blick von dem Mädchen zu wenden.
«Nun, der Hof liegt ziemlich weit abseits von allem, im Umkreis von zwei Kilometern wohnt außer ihnen niemand und die Familie hielt sich von den wenigen Nachbarn fern. Gesa war das siebte Kind der Bauernfamilie und keiner im Dorf wusste, dass sie überhaupt geboren worden war. Die Mutter hat das Mädchen allein in der Küche zur Welt gebracht. Bei sieben Kindern kann es passieren, da kann so ein Nesthäkchen auch mal etwas unbeachtet so nebenbei groß werden. Irgendwie hatten die Eltern vergessen, die Kleine bei den Behörden anzumelden, und niemand hatte daran gedacht, dass sie inzwischen im schulpflichtigen Alter war.»
«Und die anderen Geschwister?»
«Die Großen gehen alle zur Schule, die beiden
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