Fischer, wie tief ist das Wasser
genommen hatte sich keine Menschenseele für ihren IQ interessiert, seit der Neue bei Liekedeler war. Waren seine Ergebnisse denn so überwältigend? Gesa glaubte es nicht, sie hatte ein paar Mal mit Henk gesprochen und ihn absolut nicht gemocht, sein Kopf war leer, wie eine Plastiktüte, die vom Wind aufgebläht ein paar Meter durch die Luft wirbelte und sonst nichts Großartiges an sich hatte. Doch wenn es so war, dass er zurzeit noch dümmer war als sie, dann konnte es für das ganze Aufhebens um Henk nur einen Grund geben: Es war seine Entwicklung, für die sich alle so wahnsinnig interessierten. Sein Kopf begann sich zu füllen, aus einem Hohlraum wurde nach und nach eine Denkmaschine, er kam von ganz unten und sollte ganz nach oben.
Gesa wusste, dass ihr IQ schon von Anfang an weit über der Norm gelegen hatte, auch wenn alle aus ihrer Familie dumm zu sein schienen. Warum konnte sie nicht mehr aufhören, immer zu denken? Manchmal wünschte Gesa sich, so wie die anderen Mädchen zu sein, einfach mal zu schmollen und ein paar Tränen zu vergießen, wenn keiner da war, der sich um sie kümmern wollte. Doch Gesa wusste, dass in ihrem Kopf alles anders funktionierte, dass sie immer nachdachte und dass sich diese eine Tatsache nicht von ein wenig Heulerei fortspülen ließ: Henk Andreesen war der neue Star bei Liekedeler. Und sie war ein Experiment, das man fallen gelassen hatte.
Es gab zu viele neue Gesichter in ihrer Burg.
Gesa verkroch sich tiefer in ihr Versteck. Sie behielt ihr Haus im Auge. Sie hasste jeden, der auch nur einen Stein umdrehte oder etwas verrückte. Sie wollte jeden bekämpfen, der dies tat. Sie wollte alles hier bestimmen.
Die Neue stand auf ihrer Abschussliste, die Neue und der verfluchte Henk Andreesen.
Gesa schnappte mit ihrer Hand eine schillernde Libelle, die ahnungslos an ihr vorbeigeflogen war. Die seidigen Flügel kitzelten fast zärtlich die Innenseite ihrer Handflächen. Gesa freute sich darauf, das zarte Gewebe unter dem Mikroskop zu betrachten. Sie freute sich auf den kleinen Ruck, mit dem sie das Insekt von seinem Flügel trennen würde. Sie gönnte sich noch ein paar stille Minuten der Vorfreude.
Das schmerzhafte Klopfen hinter den Schläfen hatte wieder begonnen.
2.
Vier Wochen waren vergangen, schnell und sonnig hatten sich die ersten Tage bei Liekedeler aneinander gereiht, ich konnte kaum glauben, dass der erste Monat schon vorüber war. Der August hatte begonnen und es waren nur noch wenige Tage bis zum Beginn der Sommerferien. Die freudige Ungeduld der Kinder auf eine schulfreie Zeit steckte mich an: In den Ferien kamen die Kinder den ganzen Tag zu Liekedeler, also würde mir endlich etwas mehr Zeit bleiben, sie alle nach und nach kennen zu lernen. Bislang hatten stapelweise zu schreibende Pressemitteilungen und das ständig klingelnde Telefon mich daran gehindert.
Ich sortierte gerade meine Gesprächsnotizen, die ich bei einem Telefonat mit einem privaten Fernsehsender recht wirr zu Papier gebracht hatte, da klopfte es leise an meiner Tür und nachdem ich «Herein» gesagt hatte, öffnete sich ein Spalt und eine Zimmerpflanze schob sich hinein.
«Nanu», sagte ich lächelnd, stand auf und griff nach der kleinen Palme, da ging die Tür auf und ich sah sie alle mit lachenden Gesichtern vor mir stehen: Dr. Schewe, ihre Assistentin Silvia Mühring, Sjard Dieken und all die anderen neuen Kollegen. «Herzlich willkommen bei Liekedeler!», sangen sie im Chor und ich merkte, dass ich tatsächlich ein wenig rot wurde, was mir nur noch sehr selten passierte. Um meine Verlegenheit zu kaschieren, drehte ich mich zum Fenster und stellte den Blumentopf auf die Fensterbank.
«Nein, nicht ins Büro stellen. Wir dachten eigentlich, dass dieses Geschenk ein kleiner Beitrag für Ihre neue Wohnung sein sollte», sagte Sjard Dieken.
«Und wir hätten nichts dagegen, dass Sie sich heute einen Tag freinehmen, um mit dem Umzug zu beginnen», ergänzte Dr. Schewe, trat auf mich zu und legte die Hände auf meine Schultern. «Ihre Wohnung unter dem Dach ist fertig, sie wartet quasi nur noch darauf, dass Sie einziehen. Und wir wollen Ihnen alles Liebe und Gute dazu wünschen!»
Ich erwiderte ihr strahlendes Lächeln, blieb aber wie angewurzelt stehen.
«Jetzt aber los!», sagte sie.
«Und wenn Sie möchten, dann lade ich Sie heute Abend noch auf einen Schluck Wein bei mir ein», sagte Silvia Mühring und trat auf mich zu, um mich kurz zu umarmen und mir einen kaum fühlbaren Kuss
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