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Fischer, wie tief ist das Wasser

Fischer, wie tief ist das Wasser

Titel: Fischer, wie tief ist das Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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ersten Stunde dabei waren, saß mir gegenüber und unterstützte seine Rede mit einer bestimmenden Geste, die besagte: «Natürlich habe ich Recht!» Soll ich sagen, dass er mir von Anfang an unsympathisch war? Seine Idee war gut, ich konnte mich sofort dafür begeistern, doch die Art, wie er nun Beifall heischend in die Runde schaute und mich dabei geflissentlich übersah, machte mich wütend.
    Ich schaute ihm direkt in die Augen, er sollte wissen, dass ich mich nicht ignorieren ließ, besonders nicht, wenn ich es war, die angesprochen wurde. «Sie kennen die Schüler besser als ich, Herr Redenius.» Nun musste er zu mir hinüberschauen. «Meinen Sie, dass wir ein Kind dabeihaben, welches sich für diesen Zweck eignen würde?» Ich stolperte kurz über meine eigenen Worte. «Das hört sich seltsam an: Kinder, die sich für einen Zweck eignen, finden Sie nicht?» Lächelnd schaute ich die anderen Anwesenden an. «Ich werde mich wohl daran gewöhnen müssen, die Kinder als Produkt zu sehen. Es ist schon komisch, in meiner vorherigen Firma habe ich Teemischungen beworben, Ceylon und Darjeeling und Earl Grey. Nun sind die Objekte meiner Arbeit eben Kinder.»
    «Das geht uns allen manchmal so», beruhigte mich Dr.   Schewe freundlich.
    Jochen Redenius hatte sich allem Anschein nach diese Betrachtungsweise bereits vollständig zu Eigen gemacht. «Ich denke an einen bestimmten Jungen. Er ist noch nicht lange bei uns, genau genommen seit Mitte April.»
    «Mitte April? Das sind lediglich drei Monate. Kann man in einem Vierteljahr schon derartige Fortschritte machen, dass sich darüber in einer Talkshow reden lässt?»
    Redenius blätterte kurz mit seinen blassen Fingern in einer penibel geführten Mappe und zog ein Blatt hervor. «In allen Fächern um ein bis zwei Noten rauf. Und das trotz Schulwechsels. Ich halte es für erstaunlich.»
    «Vielleicht liegt es auch an der Schule?», unterbrach ich.
    Doch mein Gegenüber schüttelte den Kopf. «Nein, das ist es nicht. Er kommt von Juist und auf der Insel gibt es keine wirklichen Weiterbildungsmöglichkeiten für Kinder, trotzdem haben wir ihn eine Klasse höher einschulen lassen. Wir haben den Klassenwechsel angeregt, obwohl der Intelligenztest, den wir bei allen neuen Schülern vor Beginn der Förderung durchführen, einen eher durchschnittlichen Wert von 112 ergab.»
    «Sie führen I Q-Tests durch? Bei allen Kindern?» Das war mir neu und ich war mir nicht sicher, ob mir diese Tests gefielen.
    Redenius schien über meine heftige Reaktion erstaunt zu sein. «Nichts geschieht hier ohne Einwilligung der Eltern, und Sie glauben gar nicht, wie erpicht die meisten darauf sind, die Werte ihrer Sprösslinge zu erfahren. Haben Sie sich etwa noch nie testen lassen?»
    «Um Himmels willen, nein!», entfuhr es mir. Manchmal hielt ich mich zwar selbst für unglaublich schlau, doch genauso oft überkam mich die Gewissheit, dass sich mein IQ locker mit dem kleinen Einmaleins ausrechnen ließ. «Ich möchte lieber gar nicht wissen, wie es wirklich um mich steht.»
    «Sie müssen noch eine Menge lernen, wenn Sie in unserem Hause Fuß fassen möchten», sagte Redenius. Zwei seiner Kollegen nickten, doch Dr.   Schewe – sie saß eher etwas abseits am Ende des Konferenztisches – räusperte sich.
    «Jochen, du solltest wissen, dass Liekedeler von neuen, anderen Sichtweisen nur profitieren kann, und wenn Frau Leverenz eine kritische Einstellung zu unseren Methoden hat, so ist siein meinen Augen umso qualifizierter für ihren Job in der P R-Abteilung .»
    Redenius klappte seinen Ordner zu und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, aus der Hosentasche zog er ein Taschentuch und reinigte damit seine Brille, die wahrscheinlich gar nicht beschmiert gewesen war. Er sah aus, als erwarte er einen doppelten Salto oder etwas ähnlich Beeindruckendes von mir, um die Worte seiner und meiner Vorgesetzten zu rechtfertigen.
    «Lassen Sie mich bitte erst einmal mit meiner Arbeit und vor allem Einarbeitung beginnen, liebe Kollegen», sagte ich entschuldigend. «Ich bin gerade mal einen halben Tag hier und ich verspreche Ihnen, mein Bestes zu geben. Ob das ausreicht, können Sie gern in ein paar Wochen entscheiden.» Ich blickte mich um, sah ein ermutigendes Lächeln auf Dr.   Schewes Gesicht und fühlte mich ein wenig wohler.
    «Wir sollten uns vielleicht nicht auf ein Kind festlegen», schlug ich vor. «Mit Kindern kann man nicht hundertprozentig sicher planen. Es können zu viele Dinge dazwischenkommen,

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