Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Offenbarung

Offenbarung

Titel: Offenbarung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
Vom Netzwerk:
 
Prolog

     
     
    Sie steht allein am Ende der Mole und schaut zum Himmel auf. Der
Brettersteg, der sie mit dem Strand verbindet, schimmert silbrig blau
im Mondlicht. Das Wasser ist schwarz wie Tinte und schlägt leise
gegen die Stützen. Westlich der Bucht flimmern weit
draußen am Horizont grünliche Flecken, als läge eine
ganze hell erleuchtete Galeerenflotte auf dem Meeresgrund.
    Bekleidet ist sie, wenn man es so nennen kann, mit einer
weißen Wolke aus künstlichen Schmetterlingen. Nun befiehlt
sie ihnen, näher zu kommen. Sie legen die Flügel
übereinander und bilden so etwas wie eine Rüstung. Nicht
dass ihr kalt wäre – der Abendwind ist warm und
gesättigt mit dem exotischen Duft ferner Inseln –, aber sie
fühlt sich verwundbar, so als ruhe das Auge einer Macht auf ihr,
die weit älter und stärker ist als sie. Wäre sie einen
Monat früher gekommen, als noch zehntausende den Planeten
bevölkerten, das Meer hätte ihr sicher nicht so viel
Aufmerksamkeit geschenkt. Doch abgesehen von ein paar
unverbesserlichen Schlafmützen und einigen wenigen
Neuankömmlingen wie ihr selbst sind alle Inseln jetzt leer. Sie
ist neu hier – genauer gesagt, sie war lange Zeit fort –,
und nun weckt ihr chemisches Signal das Meer. Die Flecken vor der
Bucht sind erst nach ihrer Landung aufgetaucht. Das ist kein
Zufall.
    Das Meer hat sie wiedererkannt, auch nach so vielen Jahren.
    »Wir sollten jetzt gehen«, ruft ihr Beschützer von
dem schwarzen Landkeil herüber, wo er, auf seinen Stock
gestützt, ungeduldig auf sie wartet. »Du bist hier nicht
sicher, seit sie den Ring nicht mehr zusammenhalten.«
    Ach ja, der Ring: Sie kann ihn sehen, er durchschneidet den Himmel
wie eine plump übertriebene Darstellung der Milchstraße.
Die zahllosen Steinsplitter blitzen und funkeln, wo das Licht der
näheren Sonne auf sie fällt. Als sie eintraf, wurde der
Ring noch von den Planetenbehörden überwacht: Alle paar
Minuten blitzte der rosarote Leuchtschweif einer Steuerrakete auf,
weil eine der Drohnen ein Stück Schutt beschleunigte, bevor es
die Planetenatmosphäre streifen und ins Meer stürzen
konnte. Sie hatte mitbekommen, dass die Einheimischen sich etwas
wünschten, wenn sie diese Blitze sahen. Sie waren nicht
abergläubischer als andere Planetenbewohner, aber sie wussten
eben, wie gefährdet ihre Welt war – und dass sie ohne die
Blitze keine Zukunft hatte. Es hätte die Behörden nichts
gekostet, den Ring auch weiterhin überwachen zu lassen: Die
selbstreparierenden Drohnen hatten ihre Pflicht in den letzten
vierhundert Jahren seit der Neubesiedlung tadellos erfüllt. Sie
abzuschalten, war eine rein symbolische Geste gewesen, die den Zweck
hatte, die Evakuierung voranzutreiben.
    Durch den Schleier des Rings sieht sie den zweiten, ferneren Mond:
den Mond, der nicht zerstört wurde. Von den Menschen hier ahnte
kaum jemand, was damals geschehen war. Sie wusste es. Sie hatte es
mit eigenen Augen gesehen, wenn auch aus sicherer Entfernung.
    »Wenn wir noch lange bleiben…«, mahnt ihr
Beschützer.
    Sie dreht sich um und schaut zum Land zurück. »Nur eine
kleine Weile noch. Dann können wir gehen.«
    »Ich fürchte, dass jemand das Schiff stehlen
könnte. Und ich mache mir Sorgen wegen der Nestbauer.«
    Sie nickt, denn sie versteht seine Ängste, aber sie wird sich
nicht abhalten lassen, das zu tun, wozu sie hergekommen ist.
    »Dem Schiff wird nichts geschehen. Und von den Nestbauern
haben wir nichts zu befürchten.«
    »Sie scheinen sich aber sehr für uns zu
interessieren.«
    Sie streift einen künstlichen Schmetterling ab, der sich auf
ihre Stirn verirrt hat. »Das war schon immer so. Sie sind
einfach neugierig.«
    »Eine Stunde«, sagt er. »Dann lasse ich dich allein
zurück.«
    »Das glaube ich dir nicht.«
    »Du kannst es ja darauf ankommen lassen.«
    Sie lächelt. Er wird sie nicht im Stich lassen, das
weiß sie genau. Aber seine Nervosität ist berechtigt: Beim
Anflug auf den Planeten mussten sie ständig gegen den Strom der
unzähligen Flüchtlingsschiffe anschwimmen, die nach
außen drängten. Als sie in den Orbit gingen, waren die
Transitfahrstühle bereits gesperrt: Die Behörden
gestatteten niemandem mehr, auf diesem Weg zur Oberfläche zu
gelangen. Nur mit Heimtücke und Bestechung war es ihnen
gelungen, Plätze in einer Gondel zu bekommen. Sie hatten das
ganze Abteil für sich allein gehabt, aber ihr Begleiter hatte
behauptet, alles sei vom Geruch der Panik durchdrungen; die
chemischen Signale der Menschen

Weitere Kostenlose Bücher