Fischer, wie tief ist das Wasser
mit mir dort oben. Bevor es umgebaut wurde. Sie war immer dort.»
«Gesa?» Das lebendige, fröhliche Mädchen ging meistens eigeneWege. Es wunderte mich nicht, dass sie bereits das ganze Haus und jeden unbekannten Winkel des Gartens durchstöbert haben könnte.
«Ja, sie hatte dort oben ihren Lieblingsplatz. Jetzt ist sie sehr böse, weil Sie ihn ihr weggenommen haben.»
Ich stutzte. Mir war bislang keinerlei Bösartigkeit an Gesa aufgefallen. Sie grüßte stets nett, manchmal etwas überschwänglich, sicher hätte ich es bemerkt, wenn sie wütend auf mich war. «Sie glauben mir nicht, stimmt’s?», fragte Henk. Er hatte den Stift beiseite gelegt und sich mit verschränkten Armen in seinem Schreibtischstuhl zurückgelehnt. «Niemand glaubt mir, wenn ich von Gesa erzähle.»
«Was erzählst du denn von ihr?» Ich war hellhörig geworden.
Er zögerte kurz, doch dann begann er mit fast flüsternder Stimme zu sprechen. «Gesa ist böse. Sie hasst mich und sie hasst Sie.»
«Warum sollte sie das tun?»
«Sie hat gesagt, dass wir ihr alles stehlen würden. Als sie mich damals mit auf den Dachboden genommen hat, da wollte sie mich …» Henk verstummte. Er hatte anscheinend bereits mehr gesagt, als er wollte.
Doch ich bohrte weiter. «Was wollte sie mit dir machen?»
Er schüttelte den Kopf und presste die Lippen fest aufeinander. «Wollte sie dir wehtun? Dich ärgern?»
Er nickte fast unmerklich.
«Was hat sie getan?» Ich ließ nicht locker und setzte mich neben ihn auf den Stuhl. Man musste keine Pädagogin sein, um zu spüren, wie sehr er sich jemanden zum Zuhören wünschte.
«Sie wollte mich hinausstoßen.»
Ich hätte fast den Kopf geschüttelt und «Nein, das glaube ich nicht» gesagt, doch ich riss mich zusammen, weil ich wusste,dass sich Henk Andreesen keine Geschichten ausdachte. Also entschied ich mich, zu schweigen und ihn lediglich mit meinem Blick zum Erzählen zu ermuntern.
«Eigentlich hatte Gesa mir ein Geheimnis versprochen, auf dem Dachboden sollten wir es finden und es würde nur zwischen uns beiden bleiben. Deshalb bin ich ja auch mitgegangen, nur aus Neugierde, verstehen Sie? Gesa sagte, ich solle mich aus dem Fenster beugen, wenn ich mich nur ein wenig hinauslehne, dann könnte ich die Kirchturmspitze der Ludgeri-Kirche und die Mühlen in der Stadt sehen. Und das habe ich ihr nicht so recht geglaubt, dass man von hier aus so weit sehen konnte, also lehnte ich mich vor, und sie sagte immer: ‹Weiter … weiter … gleich siehst du es.› Und als ich mich schon bis zum Bauch hinausgelehnt hatte, nahm sie meine Füße in die Hand und schob mich immer weiter über den Fenstersims. Und ich …» Henk musste Luft holen, er rührte sich sonst kaum, nur seine Lippen und die Augen bewegten sich zitternd. Ich wusste, dass er nicht log.
«Ich konnte mich nur retten, weil ich ganz laut geschrien habe und Herr Redenius zufällig gerade vor dem Haus stand und mich hörte. ‹Halt die Klappe, halt die Klappe›, rief Gesa immer wieder. ‹Du wolltest doch ein kleines Geheimnis mit mir teilen, hier hast du es›, sagte sie immer wieder. Dabei war ich nur auf einen bösen Trick hereingefallen. Ich hatte eine Sterbensangst, wirklich, weil sie so superwütend war, richtig böse. Und dann brüllte der Redenius zu uns hinauf, das heißt zu mir, er konnte Gesa ja nicht sehen, und er sagte, ich soll sofort mit dem Mist aufhören, und das hat Gesa dann mitgekriegt. Sie ließ einfach meine Beine los und ich wäre beinahe wirklich runtergestürzt, weil ich das Gleichgewicht verloren hatte. Erst ganz zum Schluss griff Gesa mich an den Schultern und zog mich hinein.»
«Sie hat dich gerettet? Henk, vielleicht wollte sie dich gar nicht hinausstoßen, sondern dir nur Angst einjagen.» Ich wusste selbst, wie fadenscheinig dieser Satz wirkte, und es tat mir Leid, dass ich dem Jungen das Gefühl gegeben hatte, ihn nicht ernst zu nehmen.
«Sie hat mich hineingezogen, das stimmt, aber dann rief sie zu Redenius runter, dass sie mich schon von unten beim Herauslehnen beobachtet hätte und so schnell wie möglich die Stufen hinauf zum Dachboden gerannt wäre, um mich zu retten.»
Ich glaubte Henk, und erst jetzt, nachdem er die ganze Geschichte erzählt hatte, kämpften sich ein paar nasse Tränen über sein verkrampftes Gesicht. Ich rückte den Stuhl ein wenig näher und streichelte ihm sanft über den Rücken. Sein Weinen war merkwürdig leise und sein Körper war wie erstarrt. Er litt still und
Weitere Kostenlose Bücher