Erfüllen Sie meinen Herzenswunsch, Mylord!
1. KAPITEL
Anfang 1817
Gedankenvoll beobachtete Charlotte Hobart, wie die Trauergäste in ihre Kutschen stiegen und abfuhren. Nicht viele Leute waren zur Beerdigung ihres Schwiegervaters, Sir William Hobarts, gekommen, denn der greise Gentleman hatte die meisten seiner Bekannten und Freunde überlebt und Easterley Manor die letzten vier oder fünf Jahre nicht mehr verlassen. Solange seine Gesundheit es zuließ, war er auf seinem Land spazieren gegangen, das sich in der einen Richtung fast bis zu der kleinen Ortschaft Parson’s End, in der anderen bis zu dem Leuchtturm auf den Klippen erstreckte. Der Baronet hatte zum Schluss das Leben eines Einsiedlers geführt und nur noch äußerst selten Besuch empfangen.
„Ein trauriger Tag, Mrs. Hobart.“
Die Stimme des Pastors unterbrach Charlotte in ihren Gedanken. Sie wandte den Blick von dem regennassen Vorplatz ab, auf dem sich gerade die letzte Kutsche in Bewegung setzte, und sah Mr. Fuller ruhig an. „Ja, Reverend. Ich vermisse Sir William sehr.“
„Was werden Sie jetzt tun?“ Peter Fuller war ein auffallend großer Mann, den man seiner hageren Gestalt wegen leicht mit einem seiner halb verhungerten Gemeindemitglieder hätte verwechseln können. Charlotte fragte sich, ob er seine Lebensmittelvorräte nicht zu großzügig an die Bedürftigen verteilte, und sie wollte nicht wissen, wie oft er auf den Zehnten eines Bauern verzichtete, wenn dieser in eine missliche Lage geraten war. Sie hielt den Reverend für einen wahren Christen und arbeitete gern mit ihm zusammen, wenn es darum ging, die Not der Armen im Dorf zu lindern und den Kindern der Bedürftigen ein wenig Unterricht im Lesen, Schreiben und Rechnen zu erteilen.
„Wie meinen Sie das, Reverend?“
„Nun, Madam, Ihr Schwiegervater war hochbetagt. Sicherlich werden Sie sich schon lange Gedanken darüber gemacht haben, wie es nach seinem Tod weitergehen soll. Er hat einen zweiten Sohn, der ohne Zweifel bald eintreffen wird, um sein Erbe anzutreten.“
„Mein Schwager wurde von seinem Vater nach Indien geschickt, wie Sie bestimmt wissen, Reverend. Hier im Dorf kann man ja nichts geheim halten.“ Cecil Hobart, Sir Williams jüngster Sohn, galt als das schwarze Schaf der Familie. Bereits in jungen Jahren hatte er dem Glücksspiel gefrönt und den Vater durch sein verantwortungsloses Handeln mehrfach in die Verlegenheit gebracht, seine Spielschulden begleichen zu müssen. Irgendwann hatte Sir William einen Schlussstrich gezogen und Cecil auf einem Schiff der Ostindien-Handelsgesellschaft in die ferne Kolonie geschickt. Zu jenem Zeitpunkt war Cecils älterer Halbbruder Grenville, Charlottes Ehemann, noch am Leben gewesen, und die Verbannung des jungen Taugenichts hatte im Hinblick auf die Erbfolge keinerlei Auswirkungen nach sich gezogen. Leider war Grenville 1809 in Portugal gefallen und hatte sie als Witwe mit zwei kleinen Töchtern zurückgelassen.
Selbst nach dem Tod ihres Gatten war Sir William nicht bereit gewesen, seinen jüngsten Sohn, den letzten männlichen Erben in der Familie, nach England zurückzurufen. Charlotte hatte weiterhin mit ihren Töchtern auf dem Hobart’schen Anwesen gelebt und das Herrenhaus mit lobenswerter Tüchtigkeit geführt. In den vergangenen zwei Jahren war sie ihrem gebrechlichen Schwiegervater eine fürsorgliche Tochter und Krankenpflegerin gewesen und hatte überdies die Aufgaben einer Haushälterin übernommen.
„Sobald er erfährt, dass sein Vater verstorben ist, wird er umgehend nach Hause kommen“, wiederholte Mr. Fuller seine Warnung. „Und falls er sich nicht geändert hat …“ Der Pastor zögerte und fragte sich, wie weit er gehen durfte. Cecil Hobarts Ruf war dergestalt, dass man um die Ehre einer jeden Dame fürchten musste, die unter seinem Dach lebte. Charlotte Hobart ging auf die dreißig zu, doch sie wirkte erheblich jünger. Sie war eine bemerkenswert attraktive Frau, die sich ein gewisses Maß an Arglosigkeit bewahrt hatte und mehr das Gute denn das Schlechte in den Menschen sah. Aus diesem Grund würde es für einen skrupellosen Mann ein Leichtes sein, ihren guten Ruf zu gefährden.
Mrs. Hobart sah ihn nachdenklich an. Ihre sanften blaugrünen Augen spiegelten die Trauer um den Verlust des Menschen wider, den sie wie einen Vater geliebt hatte. Sie wusste, dass ihr ruhiges, wohlgeordnetes Leben unweigerlich vor einer Wende stand; solange der Kummer jedoch an ihr zehrte, wollte sie nicht darüber nachdenken. Zurzeit sah sie sich lediglich in der
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