FJORD: Thriller (German Edition)
gehörte. Vielleicht war es auch nur sein persönlicher Rachefeldzug gewesen, weil es ihm nicht gelungen war, dieses Gebäck mit Missionarseifer in Kongesanger beliebt zu machen. Heinrich Sommers Eigenart war oft belächelt worden. Einige seiner Macken hatte er an seinen Sohn vererbt. So auch die ausgeprägte Hilfsbereitschaft, die Carls Meinung nach eher etwas von einem Helfersyndrom hatte.
Sieh an, unser Bäcker. Die Rute hat ihm sein Vater zur Konfirmation geschenkt. Kann mich noch gut erinnern. War ziemlich teuer damals. Ließ er extra aus Deutschland schicken. Als wenn wir keine guten Ruten hätten … und jetzt liegt sie hier. Wo Erik doch sonst immer so übervorsichtig mit seinem Angelgeschirr ist …
Carl Morgan wandte sich an den Fischer. »Erzähl mir noch mal die ganze Geschichte, Nils.«
Der Fischer nickte. Deutlich war ihm anzusehen, wie sehr er eine schnelle Aufklärung des Falles wünschte. Schließlich kannte auch er das Opfer besser, als ihm jetzt lieb war. Es war schon eine Weile her, aber ihn plagte noch immer das schlechte Gewissen, gerade gegenüber seiner Frau. Deshalb hatte er kurz nach dem Fehltritt versucht, dieses bei Morgan zu erleichtern. Doch der hatte ihn an den Geistlichen verwiesen. Für Geständnisse dieser Art war die Polizei nicht zuständig. Soweit Morgan wusste, hatte Haugen seiner Frau nie etwas gebeichtet. Wäre es seine, hätte er es auch nicht getan. Plötzlich vermisste er seine Emma wie seit Monaten nicht mehr.
Haugen holte Luft und berichtete: »Ich fand heute morgen ein im Hafenbecken treibendes Ruderboot. Als ich es einholte, fehlte ein Ruder. Das Boot gehört …«
»Unserem Bäcker Erik Sommer«, fiel ihm Carl Morgan ins Wort, »und sieh mal: Hier, neben der Leiche, hat er seine Angelrute verloren. Was für ein Zufall …«
Die Falten auf seiner Stirn gewannen an Tiefe, und er spürte, wie sich die Mundwinkel unangemessen weit nach oben zogen. Da war er wieder, sein alter Jagdinstinkt. Das Klingeln eines Handys riss ihn aus der Konzentration.
»Ja?«, meldete sich Noah und lauschte aufmerksam. Er hielt die Hand vors Mikrofon und flüsterte Morgan zu: »Es ist Ann Christin. Erik randaliert.«
»Kann ich mir gut vorstellen. Sie soll ihn auf keinen Fall aus dem Haus lassen«, verlangte Carl.
Mit einer beschwichtigenden Geste holte Noah zum nächsten Satz aus. »Ja, Ann Christin, ich komme gleich nachher vorbei. Sorg bitte dafür, dass er im Bett bleibt. Lass ihn nicht aus dem Haus! Ich fürchte, ich weiß, was passiert ist. Bis später.« Er unterbrach das Gespräch und steckte das Handy in seine Jackentasche. Kopfschüttelnd blickte er auf die Leiche. »Armes Ding!«
Es war nicht schlüssig herauszuhören, wen er damit meinte. Die Leiche der jungen Liv Paulsen oder Ann Christin Sommer.
»Magnus muss es wissen«, meinte der Fischer, »die Eltern haben ein Recht darauf, es vor allen anderen zu erfahren.«
Carl Morgan grunzte und zog die Augenbrauen hoch. Nils Haugen blickte nervös aufs Meer hinaus, als suchte er dort etwas.
»Na gut«, meinte Noah und seufzte. »Dann mach mal deine Arbeit, Carl.«
In alter Gewohnheit griff Carl in seine obere Jackentasche und suchte Notizblock und Stift. Doch seit seiner Pensionierung trug er beides nicht mehr bei sich. Noah half ihm aus und stand ihm auch zur Seite, um nach seinen Anweisungen Fotos von der Leiche und dem Fundort zu machen. Obwohl er den elektronischen Mist verabscheute, war Carl froh, dass Noahs Handy über eine Kamera verfügte, und sich sein alter Freund auch noch damit auszukennen schien.
»Und nun?«, fragte der Fischer, als sie fertig waren. »Wohin mit ihr? Oder sollen wir sie hier liegenlassen, bis die Ermittler aus Trondheim da sind? Die kommen wohl nicht vor morgen. Oder übermorgen.« Er blickte prüfend in den Himmel. »Das Wetter wird schlechter.«
»Nein, natürlich können wir sie nicht hierlassen«, antwortete der Arzt dem Fischer, der den Blick immer wieder flüchtig über die Leiche streifen ließ. »Wir bringen sie am besten in meine Praxis.«
»Und wie?« Fischer Haugen hob seine Schippermütze und kratzte sich nervös über die kurzen, grauen Stoppeln am fast kahlen Hinterkopf.
»Mit deinem Boot natürlich«, brummte Carl Morgan.
»Mit meinem …«, schnaubte Haugen. »Niemals!«
»Nun stell dich nicht so an, Nils«, meinte der Arzt, nahm Haugen am Arm und zog ihn aus dem Blickfeld der Leiche. »Hier liegen bleiben kann sie nicht. Es sieht nach Sturm aus. Der
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