FJORD: Thriller (German Edition)
konnte nicht gutgehen. Zwar hatte Erik mit ihrer Ablehnung gerechnet, aber dass die empfindlichen Narben ihrer Psyche dieser Belastung nicht standhielten und sie wieder zurück in ihre Depressionen verfiel, hatte er nicht ahnen können. Das hatte er auch nie gewollt. Nun waren mehr Sorgenkinder im Haus, als er gebrauchen konnte.
»Verdammt, lass mich los!«, wollte er Odin ins Gesicht schreien, der keine Anstalten machte, ihn aus dem Bett zu lassen. Was hatte der überhaupt in seinem Schlafzimmer verloren? Stand er wieder unter Drogen und halluzinierte? Was war mit Ann Christin? Wo war Jan? War der Freund nun völlig durchgedreht?
Aber kein Laut kam über Eriks Lippen, so sehr er sich auch anstrengte. Nichts. Kein Wort, nicht einmal ein Ton. Er war unfähig zu sprechen. Unfähig, aus dem Bett zu steigen, wie gefesselt. Wenn dies ein Albtraum war, dann war es einer von der schlimmsten Sorte. Er wollte aufwachen. Einfach nur aufwachen. Wach auf! Doch nichts geschah. Er war bereits wach. Er atmete, roch Desinfektionsmittel, den Schweiß seines Gegenübers und schmeckte wie jeden Morgen den pelzigen Belag in seinem Mund. Dies war kein Traum! Dies war die Realität. Und sie hielt ihn gefangen.
Erik brach in Panik aus und schlug wild um sich.
6
Die drei Männer standen am Ufer eines fast unzugänglichen Seitenarms des Briskefjords und schüttelten immer wieder stumm die Köpfe. Sie hatten einige Zeit gebraucht, um hierher zu gelangen. Aufgrund des Nebels mussten sie geringen Abstand zum Ufer halten und jede Biegung ausfahren. Nicht jeder kannte diesen Ort und es war mehr als fraglich, warum ihn überhaupt jemand aufgesucht hatte.
Vor ihnen lag die Leiche einer jungen Frau. Ihr Körper war bereits vom Wasser aufgedunsen und zeigte stellenweise dunkle Verfärbungen von eintretender Verwesung. Jedem war augenblicklich klar, um wen es sich handelte: Niemand hatte so auffällige Tätowierungen wie die rebellische Tochter des Bürgermeisters, Liv Paulsen. Das Rot der Rose an ihrem Hals stand in grausigem Kontrast zur schneeweißen Haut und der schmutzig-schwarzen Kleidung. Das Wasser war um diese Jahreszeit schon sehr kalt und hatte die Verwesung aufgehalten. Dennoch musste sie bereits einige Zeit im Wasser getrieben haben. Liv war bekannt dafür, dass sie es gerne trieb. Besonders mit den Männern des Ortes. Viele Kämpfe drehten sich um ihre Gunst. Hinter vorgehaltener Hand behauptete man, sie wäre sexsüchtig. Sie verschwand gerne mal für einige Tage, ohne jemandem Bescheid zu geben. Früher musste Carl regelmäßig Suchaktionen nach dem Mädchen starten. Niemals war ihr etwas zugestoßen. Manchmal verkroch sie sich mit ihrem gerade Auserwählten in einem Liebesnest oder verschwand für ein paar Tage noch Trondheim oder Oslo für Vergnügungen unbekannter Art. Eines Tages mussten selbst ihre Eltern einsehen, dass die junge Frau nicht zu halten, geschweige denn auf den Pfad der Tugend zurückzubringen war, und gaben die Suchaktionen auf.
Ihre Kleidung war recht unorthodox für die Gegend. Schwarz, eng, aufreizend und anstößig zugleich. Sie hatte viel Wert auf ihr unangepasstes Äußeres gelegt und den bodenständigen Frauen des Ortes manches Kopfschütteln und Tuscheln entlockt. Vamp nannte man den Kleidungsstil, den sie aus ihrer Studienzeit in Trondheim mitgebracht hatte. Jetzt war alles verdreckt und zerrissen.
Die junge Frau war offensichtlich einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen. Ihr Schädel war am Hinterkopf so tief gespalten, dass dies kein Sturz oder Unfall hätte verursachen können. Vielmehr musste hier eine Axt oder ein anderes, ähnlich scharfes und schmales Werkzeug geführt worden sein. Und das mit großer Wucht.
Sie lag auf dem Bauch, den Kopf unnatürlich verdreht, viel weiter als es ein gesunder Mensch schaffen würde. Vermutlich Genickbruch. Der allein hätte für den sicheren Tod gesorgt, vom gespaltenen Hinterkopf ganz zu schweigen. Neben der Leiche waren Fußabdrücke zu erkennen. Anscheinend von Gummistiefeln, wie sie jeder im Ort besaß.
»Wer tut denn so was?«, flüsterte Fischer Haugen, noch immer fassungslos und entsetzt. Er war der typische Vertreter seiner Gattung. Wetter- und wasserfeste Jacke und Hose in unauffälligem Dunkelgrün, Schippermütze und gefütterte Gummistiefel. Sie waren mit seinem Boot gefahren, einem alten, kleinen Fischkutter, drei Mann Besatzung. Er sicherte Nils Haugens karges Überleben. Die Fischbestände hatten sich trotz abgewanderter
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