FJORD: Thriller (German Edition)
Industrie noch nicht erholen können, und außer ihm gab es noch zwei weitere Fischer in Kongesanger, die mehr schlecht als recht ihr Dasein fristeten.
»Du hast sie heute hier gefunden?«, fragte Carl Morgan, »bei dem Nebel?«
»J…Ja«, stammelte Nils, dem langsam bewusst zu werden schien, wie verdächtig er sich damit machte. Doch Carl hatte Nils schon oft an dieser Ecke gesehen. Sie war ein Geheimtipp für gute Fischzüge, da hier verschiedene Strömungen aufeinander trafen – vermutlich war Livs Leiche von diesen Kräften an Land gespült worden. Auch aus einigen Metern Entfernung und trotz Nebels hätte man Livs helle Haut als Fremdkörper am Ufer wahrnehmen können.
Carl verzichtete deshalb auf eine Erklärung und fuhr fort: »Hast du irgendetwas angerührt? Oder die Leiche bewegt?«
»Warum hätte ich das tun sollen?«, fuhr Haugen ihn an. »Sieht man doch wohl eindeutig, dass da jede Hilfe zu spät kommt!« Von Ekel geplagt wandte er sich an den Arzt und verlangte mit heiserer Stimme: »Kannst du ihr nicht endlich die Augen schließen?«
Der starre, unwirkliche Blick setzte nicht nur dem Fischer zu. Als wäre die Überraschung und der Unglauben in ihrem Gesicht festgefroren.
Noah Sørensen schüttelte bedauernd den Kopf und hockte sich schwerfällig vor die Leiche. Das Alter machte auch ihm zu schaffen. Längst wäre er in den Ruhestand gegangen, aber es fand sich kein Nachfolger für das abgeschiedene Dorf. Und er wollte die Leute in seiner Heimatstadt nicht ohne ärztliche Versorgung lassen. Also würde er seine Arbeit verrichten, bis er entweder abgelöst wurde oder tot umfiel. Aber dass er in seinem Alter noch zu einem solchen Verbrechen gerufen wurde, in diesem beschaulichen Ort, hätte er sich nicht einmal in seinen schlimmsten Albträumen vorstellen können. »Tut mir leid, ich schätze, erst muss die Polizei die Spuren sichern.«
Währenddessen ließ Carl Morgan den Blick über das Gelände schweifen. Der zweite Mord in 34 Jahren. Für die Aufklärung des ersten hätte er keine Polizeischule besuchen müssen. Kurz nachdem er den Außenposten hier übernommen hatte. Der Tote war damals auch erschlagen worden, allerdings mit einem stumpfen Gegenstand, der sich anhand der Blutspuren recht schnell als eine bronzene Skulptur herausstellte, die in der Wohnung des Opfers stand. Nach kurzer Befragung gab die Ehefrau die Tat zu. Ein ziemlich durchschaubares Eifersuchtsdrama, in dem die allseits bekannten Hintergründe zur schnellen Aufklärung beigetragen hatten. Schließlich lebte man in einem Dorf, jeder kannte jeden und wusste oft besser über den anderen Bescheid als über sich selbst. Man musste wirklich kein Kriminalist sein, um den Fall aufzuklären.
Carl Morgan war ebenso wie der neue Dorfpolizist Tor Einar Hetland als Fremder in diesen Ort gekommen. Bald wurde er geschätzt und geachtet. Morgan machte keine Unterschiede zwischen Einheimischen, Saisonkräften und Zugereisten. Er handelte streng im Sinne des Gesetzes und man legte sich besser nicht mit ihm an. Er war eine Respektsperson.
Der Mord hier zeugte von einer gewissenlosen Brutalität. Nicht zu vergleichen mit dem alten Fall. Carls Blick blieb an einem langen Gegenstand hängen, der halb am Ufer, halb im Wasser lag. Es war eine Angelrute. Keine gewöhnliche, sondern eine der altmodischen Hochseeangeln, die nur noch von wenigen Bewohnern des Dorfes benutzt wurden. Er ging hin und zog die Rute aus dem Wasser. Die Schnur hatte sich am Ufer verheddert, deshalb war die Angel wohl nicht aufs Wasser hinausgetrieben worden. Der Angler hatte es vermutlich auf Köhler abgesehen, sie lebten in großer Tiefe, waren schmackhaft und begehrt. Und genau hier waren sie zu finden. Morgan machte sich nicht die Mühe, die Schnur zu entwirren, sondern schnitt sie ab. Er führte immer ein Messer bei sich. Die Dienstwaffe, die zu ihm gehört hatte wie sein Paar Lieblingsschuhe, hatte er mit der Pensionierung abgeben müssen.
Er betrachtete die Rute genauer. Knapp über dem unteren Haltegriff war ein Symbol eingraviert. »Die Brezel, hm…«, murmelte Morgan.
Er wusste sofort, wem die Angel gehörte. Erik Sommers Vater Heinrich hatte den Tick gehabt, alle seine Habseligkeiten mit der Brezel, diesem salzigen Laugengebäck aus seiner Heimat, brandmarken zu müssen. Als hätte ihn jemand hier in Kongesanger beklauen wollen. Spaten, Boot, Gummistiefel, Axt, Angel, sogar sein Haus – wann immer man die Brezel sah, wusste man, wem das Ding
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