Flamingos im Schnee
seit sie sie auf dem oberen Bett in Hütte 12 von Shady Hill, dem Mädchen-Sommerlager tief in den westlichen Wäldern von North Carolina, geschrieben hatte. In der Broschüre wurde versprochen, dass Mädchen dort »ihre innere Stärke finden und Mauerblümchen zum Gruppenliebling erblühen würden«, was Cam zunächst erschaudern ließ. Doch sie hatte unbedingt etwas mit ihrer besten Freundin Lily außerhalb des Krankenhauses unternehmen wollen, und das war immerhin besser gewesen als Betreuerinnen im »Krankencamp« zu werden, wo einen die vielen Glatzköpfe, die herumfahrenden Medikamentenwagen mit ihren klappernden Pillenfläschchen und der gelegentliche Mitleidsbesuch irgendeines Stars nur runterzog und an den eigenen Zustand erinnerte. In Shady Hill waren sie normale Sommerlagerkids gewesen – die Flamingos. Jede Hütte hatte sich einen Vogel als Namensgeber aussuchen sollen, und sie entschieden sich für einen, den man eher nicht im Wald antreffen würde, der nicht zu seiner Umgebung passte. So wie sie.
Cam schloss die Augen und lehnte ihren Kopf an Cumulus’ Kopfstütze. Sie hörte wieder Lilys Stimme: »… und dann steckst du die Liste weg und denkst nicht mehr daran, und mit der Zeit, nach und nach, werden die Dinge darauf, allein durch das Aufschreiben, verwirklicht.«
In dem Sommer war Lily richtig besessen davon gewesen, sich über die Selbsthilfebücher lustig zu machen, die sie unter dem Stichwort »Selbstwertgefühl« in der Bibliothek des Camps entdeckt hatte. Während die anderen Mädchen sich heimlich durch die vergilbten Seiten von Nach der Schule geht’s ab und Abschluss in Erotik schmökerten, die irgendjemands Cousine unter einem der Dielenbretter der Bücherei versteckt hatte, las Lily etwas über positives Denken. Sie beide hatten einen ganzen Nachmittag vor dem gesprungenen, alten Badezimmerspiegel der Hütte verbracht und ihren Spiegelbildern witzelnd versichert, dass sie schön und stark und liebenswert seien. Lily las etwas über Visualisierungen, woraufhin sie kichernd die Augen schlossen und sich einen leuchtenden Regenbogen vorstellten, der ihre kranken Organe reinigte und heilte. Danach entstand diese Liste.
»Lil«, hatte Cam protestiert, doch Lily war nicht zu stoppen gewesen, hatte eine der grünen Strähnen in ihren Haaren um den Finger gewickelt und die Anweisungen zusammengefasst.
»Man darf sie nicht am Computer tippen oder mit dem Handy. Sie muss mit der Hand auf Papier geschrieben werden, ganz steinzeitlich. Und man darf sie niemandem zeigen, sonst werden die Wünsche nicht wahr.«
»Hör schon auf, Lily – du glaubst doch nicht an so was, oder? Schreib’s auf, dann passiert es?«
»Nein, natürlich nicht. Aber wir sollten es trotzdem tun, nur so zum Spaß. Hier«, sagte sie und warf Cam ihren orangefarbenen Riesenbuntstift zu, der fast ein Meter lang war und den sie auf dem letzten Campausflug in einem Andenkenladen gekauft hatte. »Fang an. Eine Liste all der Sachen, die du noch machen willst, bevor du stirbst.«
Cam kritzelte auf dem oberen Rand ihres Hefts herum. »Wie sollen wir die Liste nennen?«, fragte sie Lily, die schon wie verrückt schrieb. »Löffelliste klingt so nach Opa.«
»Was sagt man denn noch für den Löffel abgeben? Die Radieschen von unten angucken? Also nennen wir sie die Radieschenliste«, antwortete Lily, ohne aufzusehen.
»Auf keinen Fall«, sagte Cam.
»Was weiß denn ich, Campbell?«, stöhnte Lily. »Dann eben Flamingoliste.«
»Ist das nicht ein bisschen weit herge- «
»Schreib einfach!«
Cam seufzte, schrieb Flamingoliste in großen Blockbuchstaben und grübelte darüber nach, was sie enthalten sollte. Sie sollte vor allem realistisch sein, beschloss sie. Was sie am meisten vermisste, seit sie krank geworden war, war Normalität. Deshalb hatte sie nach Shady Hill gewollt statt ins Krebscamp, obwohl die Hütten hier alle nach Schimmel rochen. Vielleicht gerade weil sie nach Schimmel rochen. Cam wollte ein schimmeliges Leben. Metaphorisch gesprochen. Also legte sie eine Liste all der normalen Sachen an, die sie verpassen konnte, falls sie ihre Teenagerzeit nicht überlebte. Wie: Meine Jungfräulichkeit auf einer Fassbierparty verlieren . Oder: Mich in Selbstmitleid wälzen, Trübsal blasen, schmollen und den ganzen Samstag verschlafen …
»Was meinst du, wie es sein wird?«, unterbrach Lily ihre Gedanken. Sie war mit ihrer Liste fertig und setzte sich zögernd und bleistiftkauend auf das untere Bett.
»Wie was sein
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