Flamingos im Schnee
springen. Ihre Mutter bestand darauf, dass sie ihn sich jedes Weihnachten anguckten. Cam sprang von einem Fuß auf den anderen und rieb sich die Arme. Der Himmel war seltsam dunkel, als hätte jemand schwarze Tinte über die Sterne gekippt, und die sonst so gesprächigen Grillen verhielten sich stumm.
»Was sagst du da? Kann es sein, dass du die Aussage des Films überhaupt nicht kapiert hast?«
Cam schwieg einen Augenblick und lauschte den Wellen, die sich in der Ferne am Ufer brachen. »Wieso? Er ist nicht aufs College gegangen, selbst nachdem er den Koffer bekommen hat. Er hat seine Hochzeitsreise versäumt. Er wurde zuhause zurückgelassen, und alle haben ihn ausgenutzt.«
»Und doch hat er ein schönes Leben gehabt. Wie der Titel schon sagt.«
»Das ist doch nur Propaganda, damit man sein elendes kleines Leben für lebenswert hält«, entgegnete Cam und starrte auf die Astknoten in den Brettern.
»Du verdienst mein Hemd nicht«, sagte Asher, aber sie sah, dass sich seine Füße unter der Kabinenwand nicht bewegten.
»Aber du gibst es mir trotzdem.« Sie streckte eine Hand über die Dusche.
»Woher weißt du das?«
»Weiß ich eben.«
»Hier«, sagte er und reichte es ihr hinüber.
Das Hemd war zwar schön lang, aber weiß, weshalb es an bestimmten Rundungen, wo sie doch noch nicht alles Körperfett verloren hatte, feucht und durchscheinend wurde. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und trat hinaus. Der hemdlose, waschbrettbäuchige Asher stand immer noch dort, und Cam stellte anerkennend fest, was Football und ein bisschen Heimwerkern bewirken konnten. Sie sahen sich sprachlos an, bis Cam sagte: »Jetzt komme ich allein zurecht.«
»Ach so, okay, sorry. Hübsche Schuhe übrigens«, erwiderte Asher und ging über den Rasen davon. Cam schielte noch kurz auf seine Hinteransicht, die auch nicht zu verachten war.
Drinnen spielten Alicia und Perry Scrabble am Esszimmer tisch. Das Zimmer wurde von einem ausladenden Elch geweihleuchter erhellt, der so geschmacklos war, dass er fast schon wieder als hip gelten konnte. Cam fragte sich, was die Tierschutzorganisation PETA dazu sagen würde. »Ob sie den Elch wenigstens gegessen haben?«, überlegte sie laut.
»Was?«, fragte ihre Mom.
»Ach nichts. Das war reizend, Perry. Danke, dass du mein Handtuch geklaut hast.« Cam stellte sich hinter ihre Schwester und begutachtete deren Scrabblesteine.
»Gern geschehen«, antwortete Perry, voll auf das Spiel konzentriert.
Cam zog Alicias Jacke von der Stuhllehne und wickelte sich darin ein, anschließend schlüpfte sie in Perrys rosa Uggs und schnappte sich noch eine Karottenstange.
»Fragen wir sie?«, sagte Perry, nachdem sie nyx neben das O ihrer Mutter gelegt hatte.
»Gute Idee«, sagte Cam mit Blick auf das Spielbrett. »Was wollt ihr mich fragen?«
»Perry möchte wissen, ob du von den Flamingos gehört hast.« Alicia sah sie über ihre Lesebrille hinweg an und ordnete ihre Steine neu.
»Ja, sie sind unten bei der Schule, ich habe sie gesehen.«
»Du hast sie gesehen? Glaubst du jetzt endlich, dass diese Stadt etwas Besonderes ist?«, fragte Perry mit weit aufgerissenen blauen Augen.
»Warum sollte ich?«
»Warum? Weil ein ganzer Schwarm von Flamingos hier Rast macht. In Maine, was wirklich nicht ihr normales Habitat ist«, sagte Alicia.
»Na und?«
»Das ist verrückt und außergewöhnlich und wunderbar und vielleicht ein Zeichen dafür, dass wir am richtigen Ort sind, da man Flamingos häufig in Florida antrifft«, fuhr ihre Mutter fort.
»Das ist doch total unlogisch. Die Flamingos haben nichts mit uns zu tun. Das liegt an dieser katastrophalen Klimaerwärmung, so wie die Fledermäuse aus den Höhlen in Pennsylvania verschwinden oder die Bienen sich wegen des Elektrosmogs durch Handys verfliegen.«
»Cam …«, seufzte Alicia.
»Oder Leguane erfrieren wegen der heftigen Wetterumschwünge in Florida in letzter Zeit oder Eisbären ertrinken. Die Flamingos haben irgendwo nichts mehr zu fressen gefunden und mussten sich auf Nahrungssuche begeben. Basta.«
Cam hörte ihr iPhone draußen auf der Veranda summen, wo sie ihre Shorts abgeworfen hatte. Sie nahm es aus der Hosentasche und las eine SMS von Dr. Whittier. Ich schläfere ihn morgen ein , lautete sie. Komm früh her, wenn du dich von ihm verabschieden willst.
Niedergeschlagen ging sie ins Haus zurück und fühlte sich ein bisschen hintergangen. Warum konnte Elaine Bart nicht einfach in Ruhe lassen? Sonst hatten sie’s hier doch auch so
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