Flamingos im Schnee
damit, der Natur ihren Lauf zu lassen.
»Fährst du mich morgen zu den Flamingos rüber, Cam?«, fragte Perry. »Ich will sie fotografieren.«
»Nee. Ich habe sie schon gesehen und muss morgen früh woanders sein.«
Perry versteifte sich ein wenig auf ihrem Stuhl. Sie beschrieb eine Acht mit einem ihrer Scrabblesteine und schnippte ihn dann mit Daumen und Zeigefinger auf den Boden. »Das war die reinste Zeitverschwendung«, sagte sie.
»Was?«, fragte Cam bibbernd.
»Hierherzukommen. Du hast dich kein bisschen verändert.«
»Was wollt ihr eigentlich von mir?«, rief Cam. »Ich muss morgen arbeiten.«
»Ich dachte halt …«, begann Perry.
»Was?«
»Dass du vielleicht anfangen würdest zu glauben.«
»Woran denn? Zauberei? Hokuspokus? Taschenspielertricks?« Cam fuchtelte mit den Händen wie ein Zauberkünstler und tat so, als würde sie einen Scrabblestein aus Perrys Ohr ziehen.
»Ich weiß nicht. Ich wollte einfach, dass es was nützt«, sagte Perry. Die wütende Anspannung in ihrem Blick ließ ein wenig nach, und Cam sah, dass sie mit den Tränen kämpfte.
»Es ist erstaunlich, dass die Flamingos hier gelandet sind, zugegeben. Aber das hat nichts mit mir zu tun. So naiv kann ich einfach nicht sein. Menschen sterben. Kleine Hunde ster ben. Mein Vater ist gestorben. Flamingos oder nicht, ich werde auch sterben, und zwar eher früher als später.«
»Aber es geht dir schon besser, merkst du das nicht? Dir war nicht mehr richtig schlecht, seit wir hier sind. Du hast sogar wieder Appetit und alles«, erwiderte Perry. »Diese Stadt muss etwas Magisches an sich haben, wenn du Erdnussbuttersandwiches isst.« Perrys Gesicht rötete sich, und sie zog die Augenbrauen zu hoffnungsvollen Bögen hoch.
Cam hatte viel mehr Energie, seit sie in Maine waren, das stimmte, aber sie führte das auf die frische Luft zurück und vermutete, dass es eine Phase des Sterbeprozesses war. Todkranke Menschen erleben oft eine Zeit, in der es ihnen besser geht, eine kurze Remission, biologisch eingebaut, damit sie sich verabschieden, ihre Beerdigung planen, sich bereit machen können …
»Es tut mir leid, Perry, aber ich habe mehr Energie, weil ich dem Tod nahe bin, nicht, weil er in weite Ferne gerückt ist.«
»Sie ist ein hoffnungsloser Fall«, sagte Alicia und ließ sich gegen ihre Stuhllehne sacken.
»Ich bin hoffnungsresistent«, präzisierte Cam. Mit der Spitze des rosa Ugg-Boots entwirrte sie ein paar der grau gewordenen Fransen an dem Perserläufer unterm Esstisch.
»Aber du könntest uns wenigstens den Glauben lassen«, sagte Perry.
»Lass ich euch doch.«
Ihre Schwester klappte das Spielbrett zusammen, und die Buchstaben purzelten mit traurigem Klackern zurück in die Schachtel. »Dir ist doch wohl klar, dass ich es auch nicht leicht habe, oder?«, fragte Perry.
Komisch , dachte Cam, genau das habe ich immer geglaubt . Dass ihre Schwester es leicht hatte. Was um alles in der Welt konnte leichter sein, als Perry zu sein? Ihre Neugier gewann die Oberhand, und sie ließ sich ein »Tatsächlich?« entschlüpfen.
»Ich bringe eine Menge Opfer für dich.« Perrys Stimme bebte. »Hier zu sein, zum Beispiel. Meinst du vielleicht, ich verbringe freiwillig den ganzen Sommer getrennt von meinen Freundinnen? Niemand nimmt sich je die Zeit, daran zu denken, was ich möchte oder was ich brauche, weil deine Bedürfnisse so enorm groß sind. Du hast enorme Bedürfnisse. Und das ist in Ordnung, echt. Ich bin es gewohnt, an zweiter Stelle zu stehen. Aber du könntest uns wenigstens glauben lassen, dass das hier möglicherweise etwas nützt. Ich tue wirklich viel für dich, Cam.« Eine Träne quoll nun doch hervor und lief ihr übers Gesicht.
Cam schluckte, als sie daran dachte, wie oft Perry in der Obhut eines Babysitters hatte zuhause bleiben müssen, während Alicia mit ihr zu einer neuen Klinik und einem neuen Test fuhr. Oder mit zu Arztterminen geschleppt wurde, wenn sie lieber mit ihren Freundinnen gespielt hätte oder als Cheerleader aufgetreten wäre oder sonst was. Sie wäre eine gute Cheerleaderin geworden.
»Das tut mir leid«, entgegnete Cam. »Du kannst gern glauben, was du willst.«
Oben lag die Flamingoliste immer noch zusammengefaltet und mit hochgebogenen Ecken, wie eine flache Schale, auf ihrem Koffer. Sie nahm sich einen Marker und strich Die Träume meiner kleinen Schwester zerstören durch, und dann auch gleich noch Mich in Selbstmitleid wälzen, Trübsal blasen, schmollen und den ganzen Samstag
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