Flamingos im Schnee
verschlafen .
Alles an einem Tag geschafft.
S IEBZEHN
Cam raste mit Cumulus über die gewundene Strandstraße, vorbei an der Wiese mit dem lila Löwenzahn und hin zur Tierarztpraxis. Es war elf Uhr. Sie konnte es nicht fassen, dass sie so lange geschlafen hatte. Sie ließ das Fenster herunter, damit die frische Seeluft ihr ins Gesicht peitschte und sie wach machte.
Sie hatte Elaine schon zwei SMS geschrieben an diesem Morgen, aber keine Antwort erhalten. Schnittig parkte sie Cumulus neben dem Postwagen, winkte James Madison, dem Esel, zu und rannte hinein. Hoffentlich kam sie nicht zu spät.
Kurz vor der Haustür hörte sie ein Bellen. Das konnte jeder der vielen Hunde in der Praxis sein, also zwang sie sich zur Ruhe. Doch es klang wie das helle, hohe Kläffen eines Welpen.
»Bart!«, rief sie, als sie die Tür aufmachte. Da war er und wedelte wie verrückt mit dem Schwanz.
Und dann pinkelte er.
»Da freut sich jemand, dich zu sehen«, bemerkte Elaine trocken. Sie wischte Barts Missgeschick auf und versuchte, ihm die Pfoten zu säubern, wobei er fröhlich auf ihrem Arm herumzappelte. »Wo wohnst du überhaupt?«
»In dem großen Haus oben auf dem Hügel.«
»In Avalon? Ach, du bist das Mädchen, von dem Asher mir erzählt hat. Er hat nicht gesagt, dass du krank bist.«
»Er weiß es nicht. Sie kennen Asher?«
»Er ist mein Neffe.«
»Er ist nett«, sagte Cam. Sie wusste nicht, was sie sonst sagen sollte, und scheute sich irgendwie, über ihn zu reden. »Also, was ist mit Bart passiert?« Sie nahm ihn Elaine ab und ließ sich von ihm das Gesicht abschlecken.
»Ich weiß es nicht. So etwas kommt vor. Er hat beschlossen zu leben«, meinte Elaine. Sie packte Barts Schnauze und drückte sie zärtlich. »Stimmt’s, mein Junge?«
»Gibt es nicht eine wissenschaftliche Erklärung dafür?«, fragte Cam. Sie freute sich so unbändig über Bart, dass es ihr gar nichts ausmachte, sich mit ihm in dem hässlichen Landhauswohnzimmer auf einen kratzigen Stuhl zu setzen.
»Nein, eigentlich nicht. Manche Dinge kann man nicht erklären.«
»Es gibt für alles eine Erklärung.«
»Wirklich?«, fragte Elaine mit belustigter Miene.
»Ja. Auch für diese Flamingos bei der Schule. Sie suchen einfach nach Nahrung.«
»Nur, dass sie hier eigentlich keine finden dürften. Die Krabbensaison in Maine endet im März.« Elaine setzte sich in den hässlichen Sessel gegenüber von Cam und nahm ihre Stickerei zur Hand. »Ich mache mir sogar ein bisschen Sorgen um sie. Wenn ihr Teich zufriert, müssen sie türmen. Ich hoffe, sie sind nicht wie die Frösche im Topf.«
»Frösche im Topf?«
»Wenn man einen Frosch in warmes Wasser setzt und es langsam erhitzt«, sagte Elaine und befeuchtete das Ende ihres Stickgarns mit den Lippen, damit sie es besser einfädeln konnte, »bleibt er drin, bis er gekocht wird. Ähnlich wie die Menschen. Wir sind zu faul, etwas zu verändern, also machen wir immer so weiter, bis es zu spät ist.« Elaine setzte ihre Lesebrille auf und wieder ab, fand das Nadelöhr nicht. »Mist! Kannst du das für mich machen?«, bat sie und reichte Cam Nadel und Faden.
»Igitt, das hatten Sie doch gerade im Mund.«
»Herrgott, dann eben nicht. So, geschafft.« Sie zog das rote Garn durch das winzige schimmernde Öhr.
Jede Scheibe des Erkerfensters im Wohnzimmer war mit einer farbigen, selbst genähten Sonnenblende verhängt, die an einem Saugnapfhaken hing. Cam trug Bart ans Fenster, damit sie durch einen Spalt hinaussehen konnte. Es war windig und bewölkt an diesem Morgen. Die Bucht sah aus wie zerknitterte Alufolie. Sie erspähte die Main Street in der Ferne und folgte ihrem Verlauf mit den Augen bis zum Ende, suchte den Wald nach der ungeteerten Straße ab, auf der sie hierhergekommen waren. Der Halt beim Dunkin’ Donuts schien schon ein Jahr zurückzuliegen.
»Glauben Sie das, was manche Leute über diese Stadt sagen?«, fragte sie.
»Was? Dass sie verzaubert ist?«
»Ja.« Cam setzte sich wieder, und Bart tapste zuerst im Kreis auf ihrem Schoß herum, bevor er sich zusammenrollte und schließlich einschlief.
»Jeder hat so seine eigene Theorie darüber, warum hier seltsame Dinge geschehen. Es gibt die Theorie des heiligen Indianerfriedhofs, die Theorie des Meteoriteneinschlags, die Theorie des Alienbesuchs und die Theorie des Bermudadreiecks. Mir gefällt die Theorie des Salemer Hexenprozesses am besten.« Elaine faltete ihre großen Hände über ihrem Bauch. »Obwohl es kein richtiger Hexenprozess
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