Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
ist meine feste Absicht«, sagte er. » Allerdings erfordert das Umsicht. Was werden Sie unternehmen?«
Voisey lächelte; es sah aus wie plötzlicher Sonnenschein. »Ich werde mich auf die Suche nach weiteren Ehrenwerten Mitgliedern
des Unterhauses machen, die der Ansicht sind, sie hätten nichts dagegen, dass man ihre Dienstboten in ihrer Abwesenheit aushorcht, und ihnen die damit verbundenen Gefahren aufzeigen.«
Er deutete mit gehobener Hand einen Gruß an und ging.
Tellman schien nicht im Geringsten überrascht, als er Pitt sah, der auf der Straße vor seinem Hause auf ihn wartete. Abgesehen von der Wache in der Bow Street war das die einzige Stelle, an der er sicher sein durfte, ihn zu finden. Nur würde man Pitt in der Bow Street zweifellos erkennen, und schon wenige Minuten später hätte Wetron Kenntnis von seiner Anwesenheit. Also blieb ihm jeweils nichts anderes übrig, als zu warten, und das zuweilen recht lange, denn Tellman kehrte abends zu unterschiedlichen Zeiten nach Hause zurück, je nachdem, wie er mit seiner Arbeit vorankam.
Offenkundig war Wetron überzeugt, dass Tellman und Pitt miteinander in Verbindung standen – das hatte er im Gespräch mit Tellman über Piers Denoon deutlich genug durchblicken lassen. Trotzdem war es besser, nicht aufzufallen, und so hielt sich Pitt in der zunehmenden Dämmerung im Schatten der Gasse, bis Tellman an der Haustür auftauchte.
Schweigend folgte er ihm ins Haus und nach oben zu dessen Zimmer. Dort zog Tellman die Vorhänge vor, bevor er die Gaslampe entzündete. Rasch machte er Feuer im Kamin, und schon bald wurde es im Zimmer angenehm warm. Die Vermieterin brachte beiden Brot und heiße Suppe, ohne ein Wort zu verlieren.
Mit zunehmendem Entsetzen hörte sich Tellman die Einzelheiten an, die Pitt über den Anschlag in der Scarborough Street berichtete. Selbstverständlich hatte er davon gehört, doch war es etwas völlig anderes, wenn ein Augenzeuge die Ereignisse schilderte. Sie bekamen ein Gesicht, man wurde sozusagen Zeuge der Gewalttätigkeit, sah gleichsam das Blut fließen, hörte den Lärm und die Schmerzensschreie, roch den Rauch und das verbrannte Fleisch, spürte die Hitze, die die Haut versengte.
»Voisey ist überzeugt, dass Wetron dahinter steckt«, sagte Pitt mit tonloser Stimme.
Es würgte Tellman im Hals. Er konnte sich ein solches Ausmaß an kaltblütiger Bosheit nicht vorstellen. Zwar hatte er schon früher gesehen, wie sehr der Ehrgeiz einen Menschen deformieren kann, doch wollte ihm nicht in den Kopf, dass ihn Machthunger zu einem solchen Gemetzel veranlassen konnte. Selbst wenn er sich Wetrons ausdrucksloses Gesicht und seine kalten Augen vorstellte, erschien ihm das unfassbar.
Pitt allerdings war bereit, es zu glauben. »Wir müssen zeigen, dass es eine Verbindung, und zwar möglicherweise finanzieller Art, zwischen Wetron und dem Dynamit gibt«, sagte er ruhig. »Ohne einen solchen Beweis haben wir keine Handhabe.«
»Ich versuche es bei Taschen-Jones«, sagte Tellman nach kurzem Nachdenken. »In der Tat könnte es möglich sein, eine solche Beziehung über den Weg des Geldes aufzuzeigen. Etwas anderes fällt mir auch nicht ein.«
Sie sprachen noch eine Weile miteinander, dann ging Pitt. Mit einem Funkenregen sank das Feuer in sich zusammen, und Tellman legte einige Kohlen nach. Draußen war es dunkel. Regentropfen prallten an die Fensterscheiben. Er überlegte, in welcher Weise er Jones auf das Thema ansprechen konnte. Wie sehr sich doch in der kurzen Zeit, seit Pitt der Wache in der Bow Street nicht mehr vorstand, die Dinge gewandelt hatten! Zwar waren inzwischen einige neue Gesichter aufgetaucht, doch die meisten der Männer arbeiteten schon seit Jahren dort. Wie viele von ihnen mochten bestechlich sein? Ob sie dafür schon immer anfällig gewesen waren, ohne dass er etwas davon gemerkt hatte? Sollte er ein so schlechter Menschenkenner sein? Hatte er sie einfach deshalb für anständig gehalten, weil sie Polizeibeamte waren, während sie sich in Wahrheit kaum von den schwachen, habgierigen, tückischen und käuflichen Menschen unterschieden, auf die sie Jagd machten?
Oder waren sie lediglich ebenso blind, wie er es ursprünglich gewesen war? Hielten sie ihren Vorgesetzten Wetron für integer,
weil er eine hohe Position bei der Polizei bekleidete? Hinderten ihr Anstand und ihre Loyalität sie daran, die Dinge zu sehen, wie sie waren, sodass sie nie auf den Gedanken gekommen wären, er könne bis ins Mark verdorben sein?
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