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Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman

Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman

Titel: Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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ihre einstige Beziehung meinte oder die Art und Weise von Magnus’ Tod und was sich in diesem Zusammenhang noch ergeben mochte. Immerhin musste er mit öffentlichen Anwürfen und öffentlicher Empörung rechnen. »Euer Verlust greift mir ans Herz«, sagte sie. »Zweifellos werden wir uns später noch anderen Dingen stellen müssen, die aber dürften im Augenblick unerheblich sein.«
    Ein leichtes Lächeln trat auf seine Züge. Sein Gesicht wirkte alt, seine Haut dünn wie Papier, doch seine Augen waren ganz so, wie sie sie von früher in Erinnerung hatte. »Das wird nicht lange auf sich warten lassen«, stimmte er ihr zu. »Magnus war immer gleich Feuer und Flamme und hat sich für bestimmte Dinge eingesetzt, weil ihm Ungerechtigkeit in tiefster Seele zuwider war. Leider hat er sich nicht jedes Mal genau angesehen, worum es dabei ging, und wohl auch nicht begriffen, dass eine gute Sache gelegentlich auch von schlechten Menschen verfochten wird. Ich hätte ihm vermutlich beibringen müssen, geduldiger zu sein, vor allem aber, der Weisheit sein Ohr zu leihen.«
    »Man kann niemandem beibringen, was er nicht lernen
möchte«, sagte sie sanft. »Ich meine mich zu erinnern, dass ich in seinem Alter auch ziemlich revolutionär gesinnt war. Meine einzige Weisheit bestand damals darin, dass ich diesem Hang nicht in meinem Vaterland nachgegeben habe. Als mir der Boden von Rom zu heiß unter den Füßen wurde, konnte ich zum Glück nach England zurückkehren.«
    Die Zärtlichkeit, mit der er sie ansah, erinnerte sie voll Freude und Schuldbewusstsein an frühere Gelegenheiten. »Darüber hast du nie gesprochen«, sagte er. »Nur über die Hitze und das italienische Essen. Dafür hattest du schon immer eine Schwäche.«
    »Vielleicht erzähle ich es dir eines Tages«, sagte sie im vollen Bewusstsein dessen, dass sie es nie tun würde. Jener Sommer des Jahres 1848 war eine Zeitinsel, die in ihrem übrigen Leben keinen Platz hatte und die sie mit niemandem teilen wollte, nicht einmal mit Sheridan Landsborough. Ganz davon abgesehen könnte es ihn schmerzen, wenn man ihm Jugend, glühenden Idealismus und Liebe ins Gedächtnis rief, lauter Dinge, die ihm selbst mittlerweile entglitten waren, ihn aber möglicherweise an seinen Sohn gemahnten, um den er trauerte.
    Die Kutsche wartete. Vespasia sah ihn aufmerksam an und erkannte in seinem Blick Erinnerung, Einsamkeit und womöglich ebenfalls Schuldbewusstsein. Er hätte in jungen Jahren unter Umständen einen Revolutionär abgegeben. Nicht nur hatte er sich über Ungerechtigkeit empört und den Wandel befürwortet, er hatte auch den Mut gehabt, zu seinen Überzeugungen zu stehen. Vielleicht lag es daran, dass er nie ein hohes Regierungsamt bekleidet hatte. Wie viel mochte er über die Aktivitäten seines Sohnes gewusst haben? Hatte er womöglich anfangs Sympathien dafür empfunden und war jetzt bereit, seine Erinnerung daran zu verteidigen?
    »Auf Wiedersehen«, sagte sie und ließ sich von ihm in die Kutsche helfen.
    Auf dem Heimweg dachte sie weiter über die Fragen nach, die ihr durch den Kopf gingen. Noch am Nachmittag kehrten ihre Gedanken immer wieder zu dem Gespräch zwischen Cordelia
und Denoon zurück, aber auch zu dem, was Enid dazu gesagt hatte. Auf ihrem Gesicht hatte neben einem Ausdruck leidenschaftlicher Emotionen, die mehr als idealistisch waren, der von Schmerz so nahe an der Oberfläche gelegen, dass sie ihn kaum zu beherrschen vermocht hatte.
    Am frühen Abend kam Vespasia zu dem Ergebnis, dass sie die Sache nicht länger allein mit sich ausmachen könne, und ließ sich in die Keppel Street fahren.

    Charlotte war hoch erfreut, sie zu sehen. Die Ärmlichkeit ihrer Wohnung war ihr nicht mehr peinlich. Schon vor einigen Jahren hatte sie gemerkt, dass sich Vespasia in ihrer Küche auf eine Weise wohl fühlte, wie sie das bei sich zu Hause nie tun würde, wo die Kluft zwischen ihr als der Herrin und den Dienstboten, die nur etwas sagten, wenn sie angesprochen wurden, unüberbrückbar war. Obwohl Vespasia in einem Haus voller Menschen lebte, war sie seit dem Tod ihres Mannes in vieler Hinsicht allein, wenn sie es nicht schon vorher gewesen war. Kindesliebe ist von anderer Art und schließt nicht unbedingt Kameradschaft mit ein.
    »Tante Vespasia!«, begrüßte Charlotte sie mit ungeheucheltem Entzücken. »Komm doch bitte rein. Möchtest du dich ins Wohnzimmer setzen?«
    »Auf keinen Fall«, sagte Vespasia offen heraus. »Stimmt mit eurer Küche etwas nicht?«
    Charlotte

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