Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
fuhr sich mit den Händen durch die Haare. »Ich weiß nicht, ob sie so weit verbreitet ist, wie sie behaupten, aber ich werde der Sache nachgehen müssen. Nur wenn die Menschen Grund haben, an das Gesetz zu glauben, dürfen wir erwarten, dass sie sich daran halten.«
Vespasia merkte, wie ein kalter Schauer sie überlief. Sie hatte das Gefühl eines Verlustes, der sehr viel weiter ging als beim Tod eines Menschen, ganz gleich, wie gewaltsam oder tragisch er sein mochte. »In dem Fall kommt es vielleicht zum Kampf«, sagte sie. »Wir müssen unsere Bataillone ordnen.«
KAPITEL 3
Am nächsten Morgen suchte Pitt die inhaftierten Anarchisten noch einmal im Gefängnis auf, um zu sehen, ob er von ihnen Weiteres erfahren konnte. Welling hatte dunkle Ringe unter den Augen und wirkte erschöpft. Man hätte annehmen können, er sei die ganze Nacht rastlos in seiner Zelle auf und ab geschritten. Mitgenommen wie er war, konnte er nicht zusammenhängend denken und wagte es offensichtlich nicht, sich Pitt anzuvertrauen.
Bei dem Idealisten Carmody lagen die Dinge anders. Er barst vor Energie und konnte kaum stillhalten, wollte sich unbedingt von der Seele reden, was er von der Unterdrückung der Bevölkerung durch die Regierung, der Ausbeutung der Armen und den Übeln hielt, die auf privaten Reichtum zurückgingen.
»Unsere Gesellschaftsordnung ist in die Jahre gekommen!«, sagte er voll Leidenschaft, wobei er Pitt mit glühenden Augen ansah und mit seinen dürren Fingern in die Luft stach. »Sie ist müde geworden! Wir müssen von vorn beginnen, die Fehler der Vergangenheit ausmerzen, alles beiseite fegen.« Wild gestikulierte er mit beiden Armen. »Wir brauchen einen Neuanfang!«
»Mit neuen Vorschriften?«, fragte Pitt bitter.
»Da haben wir es. Sie fangen schon wieder an!«, hielt ihm Carmody vor. »Nicht einmal in Gedanken können Sie sich von den Vorschriften lösen. Sie tun nur so, als ob Sie mir zuhörten. Sie sind genau wie die anderen. Auch Sie wollen allen
Ihren Willen aufzwingen. Um nichts anderes geht es nämlich: Macht, Macht, immer nur Macht. Sie denken nicht im Traum daran, mir zuzuhören. Nein, keine Vorschriften! Damit erstickt man die Menschen, drückt ihnen die Luft ab, bis sie tot sind. Verstehen Sie das nicht? Vorschriften töten alles Leben im Land ab.«
»Ehrlich gesagt glaube ich, dass es Ihnen in Wirklichkeit um das genaue Gegenteil geht«, gab Pitt zur Antwort und verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Die Luft in der Zelle war verbraucht und stickig.
Carmody war erbost. Er wusste nicht, wie er sich gegen das zur Wehr setzen sollte, was er als Pitts Uneinsichtigkeit ansah. »Verschwinden Sie! Raus hier!«, schrie er ihn unvermittelt an. »Ich sag Ihnen nichts mehr! Nicht wir haben Magnus umgebracht. Das waren Ihre Leute. Warum hätten wir das auch tun sollen? Er war unser Anführer.«
»Vielleicht wollte jemand anders Anführer werden?«, gab Pitt zu bedenken, ohne sich zu rühren.
Carmody warf ihm einen verächtlichen Blick zu. »Macht man das bei der Polizei so?«, fragte er höhnisch. »Wer befördert werden will, bringt seinen Vorgesetzten um?«
Pitt stieß die Hände in die Taschen. »Das würde nicht klappen«, gab er zur Antwort. »Es gibt Vorschriften, die das verhindern.«
Blinde Wut überflutete Carmodys Züge einen Augenblick lang, dann begriff er, dass sich Pitt über ihn lustig machte. »Und natürlich halten Sie sich immer an die Vorschriften!«, stieß er sarkastisch hervor. »Wie das funktioniert, hab ich in der Bow Street gesehen.«
Gerade hatte Pitt ihm antworten und ihn in seine eigene Falle laufen lassen wollen. Mit der Anspielung auf die Wache in der Bow Street aber, auf die er nicht gefasst war, traf ihn Carmody an einer empfindlichen Stelle. Ihr Ruf lag ihm selbst jetzt noch am Herzen, da nicht mehr er für sie verantwortlich war, sondern Wetron. Dort arbeiteten Männer, mit denen er über Jahre hinweg
zusammen gewesen war, allen voran Samuel Tellman. Am Anfang war er Pitts erbitterter Gegner gewesen, denn seiner Überzeugung nach hatte man ihn in eine höhere Position befördert, als ihm zustand, weshalb er ihn als Vorgesetzten für ungeeignet hielt. Anweisungen erteilen durften seiner Ansicht nach nur Herren: ehemalige Heeres-oder Marineoffiziere, die den Wert der Erfahrung kannten und sich nicht in Dinge einmischten, die nicht zu ihren Aufgaben gehörten. Für Männer, die in Positionen aufstiegen, für die sie seiner Meinung nach nicht infrage
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