Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
Ansicht nach verlor nur allzu leicht den Verstand, wer sich an derlei nicht erfreuen konnte, denn ohne das wäre die Welt der Mode, des Reichtums und der politischen Macht unerträglich und erdrückend. In ihrer Ehe hatte es ein gewisses Maß an Kameradschaftlichkeit gegeben, aber keinerlei Leidenschaft, und da war es gut gewesen, dass sie lachen konnte, wenn ihr zum Weinen war. Als sie Denoon kennen gelernt hatte, war ihr von Anfang an der feierliche Ernst suspekt
gewesen, mit dem er immer auftrat. Ihrer Ansicht nach hätte ein wenig Feinfühligkeit den Eindruck von Schroffheit gemildert, den er vermittelte.
Zwar war Enid über Vespasias Anwesenheit offenkundig erstaunt, aber, wie es aussah, nicht unangenehm davon berührt. Natürlich war sie andererseits viel zu gut erzogen, als dass sie Letzteres zu erkennen gegeben hätte, wenn es so gewesen wäre.
»Wie geht es Ihnen, Lady Vespasia?«, sagte Denoon, nachdem Cordelia sie vorgestellt hatte. »Es ist sehr freundlich von Ihnen, zum Zeichen der Anteilnahme bei diesem traurigen Anlass persönlich zu kommen.« Ganz offenkundig war er überrascht und hätte das fast gezeigt.
»Gleich uns ist Lady Vespasia der Ansicht, dass wir alle Kräfte einsetzen müssen, um Vorfälle wie den von gestern künftig zu verhindern«, ergriff Cordelia das Wort und sah Denoon eindringlich an, ohne Enid weiter zu beachten.
In dem Blick, den Denoon zurückgab, erkannte Vespasia eine starke Empfindung, die sie nicht einordnen konnte, an die sie sich aber immer erinnern würde. Dann wandte er sich wieder ihr zu.
»Wie weitblickend von Ihnen, Lady Vespasia«, sagte er. »In der Tat ist die Zeit, in der wir leben, gefährlicher, als den meisten von uns bewusst sein dürfte. Das Chaos greift immer mehr um sich, und die gestrigen Ereignisse, die zu unserem tragischen Verlust geführt haben, bedeuten einen neuen Höhepunkt dieser Entwicklung. Ich bin zutiefst betroffen.« Diese letzten Worte waren wieder an Cordelia gerichtet.
»König Knut war ein weiser Mann«, sagte Enid in den Raum hinein.
Cordelia hob verwundert den Blick.
Vespasia sah Enid erstaunt an und erkannte in ihren von Trauer und Wut erfüllten Augen, dass sie mit ihren Gedanken in weiter Ferne weilte.
Ärgerlich fuhr Denoon herum und warf seiner Frau einen empörten Blick zu. »Ein Dummkopf war er!«, knurrte er. »Ich
vermute, du beziehst dich auf die Geschichte, wie er mit seinen Höflingen ans Meer geht, um der Flut Einhalt zu gebieten. Jeder, der glaubt, er könne sich einer Entwicklung entgegenstemmen oder sie gar umkehren, ist ein ausgemachter Narr! Im Übrigen habe ich bildlich gesprochen. Niemand muss warten, bis die Erde oder der Mond stillsteht, um bei gesellschaftlichen Entwicklungen einzugreifen, und ebenso wenig brauchen wir hilflos zuzusehen, wie Dinge geschehen, mit denen wir nicht einverstanden sind. Wir sind Herren unseres Geschicks!« Wieder sah er zu Cordelia hin, erkennbar aufgebracht, weil seine Frau nicht zu verstehen schien, worum es ihm ging.
Cordelia begann zu sprechen, aber Enid fiel ihr ins Wort. »Knut wollte keine Entwicklung umkehren«, widersprach sie ihm. »Er hat lediglich darauf hinweisen wollen, dass nicht einmal er dazu imstande war. Die Macht der Menschen ist begrenzt, sogar wenn es um einen so mächtigen König wie Knut I. geht.«
»Das ist nichts Neues!«, sagte Denoon voll Schärfe. »Und es gehört in keiner Weise zur Sache. Ich versuche nicht, der Natur in den Arm zu fallen, Enid, sondern will lediglich erreichen, dass die Menschen begreifen, welche Gesetze in unserem Lande herrschen, damit wir uns vor der Anarchie schützen können. Mag sein, dass du dich schon besiegt fühlst und bereit bist, dich einfach mit in den Strudel hinabreißen zu lassen – ich bin es nicht.« Wieder wandte er sich von ihr ab und Cordelia zu.
»Ich denke nicht an die Entwicklung hin zur Anarchie«, erläuterte Enid, »sondern an Veränderungen ganz allgemein.«
Diesmal ging er nicht auf ihre Worte ein, doch schwoll ihm erkennbar die Zornesader. »Cordelia, auch wenn es im Augenblick nicht so aussieht: Wir sind gekommen, um dir zu sagen, wie tief uns dein Verlust schmerzt. Sofern es etwas gibt, was wir tun können, um dich zu trösten oder dir zu helfen, stehen wir dir in jeder Hinsicht zur Verfügung, jetzt und auch künftig. Das sind keine leeren Worte, bitte glaub mir das.«
»Natürlich nicht!«, sagte Enid mit erstickter Stimme – sie schien mit einem Mal von ihren Gefühlen so überwältigt zu
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