Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
lächelte. »Nicht mehr als sonst. Die Wäsche ist trocken, die Katzen schlafen im Holzkorb, und Gracie macht den Abwasch. Aber ich kann ihr das ohne weiteres abnehmen und sie oben die saubere Wäsche zusammenfalten und einräumen lassen.« Sie ließ sich Vespasias Umhang, ihren Stock mit Silberknauf, den sie in der Hand hielt, aber nie benutzte, und den Hut geben.
Kaum hatten sie die Küchentür geöffnet, als Gracie, die gerade das Geschirr vom Abendessen abtrocknete, herumfuhr und sogleich die Förmlichkeit in Person wurde.
»Gut’n Ab’nd, Lady Vespasia!«, sagte sie atemlos und vollführte einen Knicks, der zwar ein wenig ungelenk ausfiel, sich aber im Übrigen durchaus sehen lassen konnte.
»Guten Abend, Gracie«, gab Vespasia zur Antwort und tat so, als habe Gracie den Knicks schon immer beherrscht. »Ich hatte einen sehr aufregenden Tag. Könnten Sie mir bitte eine Tasse Tee machen?«
Gracie errötete vor Vergnügen und stieß mit dem Ellbogen gegen die Teller, als sie sich daran machte, den Wunsch zu erfüllen. Im letzten Augenblick konnte sie verhindern, dass sie zu Boden fielen.
Mit einem Blick zu Vespasia unterdrückte Charlotte ein Lächeln. »Das tut mir Leid«, sagte sie rasch. »Was hat es denn gegeben?«
Vespasia setzte sich so aufrecht auf einen der Küchenstühle, wie sie das als Schulmädchen dadurch gelernt hatte, dass ihre Gouvernante sie jedes Mal mit dem Lineal in den Rücken stieß, wenn sie in sich zusammensank. Sie hatte mit einem Stapel Bücher auf dem Kopf gehen müssen – Wörterbücher, nichts so Anstößiges wie Romane –, und die Gewohnheit, sich aufrecht zu halten, hatte sie nie aufgegeben. Mit einer eleganten Handbewegung strich sie sich den dunkelgrauen Rock zurecht.
»Ich war bei Lord und Lady Landsborough, um ihnen mein Mitgefühl angesichts des Todes ihres Sohnes auszusprechen«, sagte sie ohne Umschweife. »Ich wollte lediglich einen Beileidsbrief dalassen und wurde zu meiner Überraschung empfangen.« Sie sah, wie Charlotte die Augen weit öffnete. »Ehrlich gesagt kann ich Cordelia Landsborough nicht besonders gut leiden und sie mich übrigens auch nicht. Dafür gibt es gute und reichliche Gründe, über die wir nicht weiter zu reden brauchen.«
Charlotte biss sich auf die Lippe und schwieg.
»Ich denke, sie hat mich nur empfangen, um sich meinen politischen Einfluss zu sichern. Sie ist fest entschlossen, sich dafür einzusetzen, dass das Parlament ein Gesetz verabschiedet, das der Polizei grundsätzlich Schusswaffen gestattet«, fuhr sie fort.
»Davon abgesehen soll sie weit größere Vollmachten bekommen als bisher. So soll es ihr beispielsweise erlaubt werden, in Ausübung ihrer Pflichten mehr oder weniger nach Gutdünken in die Privatsphäre der Bürger einzudringen. All das beunruhigt mich zutiefst. Edward Denoon war übrigens auch da. Du hast ja bestimmt seinen Leitartikel in der heutigen Zeitung gelesen.« Das war nicht als Frage formuliert.
Gracie fiel ein Löffel voll Teeblätter auf den Boden, und sie bückte sich, um sie möglichst geräuschlos zusammenzukehren, damit das Gespräch nicht unterbrochen wurde.
Charlotte sah rasch zu ihr hin und warf dann Vespasia mit gerunzelter Stirn einen besorgten Blick zu. »Spricht der Kummer aus Lady Landsborough?«, fragte sie. »Der Mord an ihrem Sohn muss der Armen sehr nahe gehen.« Die Kehle schnürte sich ihr zu. Unwillkürlich wandten sich ihre Gedanken ihrem Sohn Daniel zu, der vermutlich oben im Kinderzimmer über den Hausaufgaben saß. Noch war er lenkbar und bereit, auf das zu hören, was man ihm sagte. In einem halben Dutzend Jahren würde er völlig anders sein, voll Leidenschaft und Eigensinn, überzeugt, das Leid der Welt zu kennen und zu wissen, was sich dagegen unternehmen ließ. So war es nun einmal, wenn man in sich das Feuer, den Mut und den Schwung der Jugend spürte.
»Sicherlich treibt ihr Schmerz sie zum Handeln an«, sagte Vespasia. »Ihre Erschöpfung, ihre Tränen, alles, was du und ich auch empfinden könnten.«
Charlotte überlegte einen Augenblick, bevor sie etwas sagte. Ihre Züge wurden weicher. Sie versuchte nicht, Vespasias Empfindungen zu verstehen, sondern hing ihren eigenen Gedanken nach.
»Würdest du denn Einfluss auf eine solche Gesetzesänderung nehmen wollen?«, fragte sie. Die bloße Vorstellung jagte ihr Angst und Schrecken ein.
Gracie stand mit dem Rücken zum Spülbecken. Ohne sich die geringste Mühe zu geben, so zu tun, als gehe die Situation sie nichts an, ließ
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