Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
sein,
dass es sie Mühe kostete zu sprechen. »Das weiß Cordelia doch!« Sie warf ihrer Schwägerin einen brennenden Blick zu, in dem mehr Hass als Kummer zu liegen schien. Bei diesem Anblick überlief Vespasia ein Schauer, bis ihr einfiel, dass der Zorn bei vielen Menschen die Trauer so stark überlagert, dass sich die beiden Gefühle nicht unterscheiden lassen.
Als habe sie Enids Worte kaum gehört, sah Cordelia ihren Schwager unverwandt mit einem kalten Lächeln an. »Danke. In einer Zeit wie dieser müssen Verwandte und Freunde einander beistehen, und Menschen, die ähnlich denken und der drohenden Gefahr mit der gleichen Entschlossenheit gegenübertreten, sich näher rücken. Ich bin dankbar, dass ihr wie auch Vespasia die Dinge ebenso seht wie ich und begriffen habt, dass jetzt nicht die richtige Zeit ist, sich noch so tiefen privaten Empfindungen hinzugeben, weil uns sonst die Ereignisse überrollen würden.« Sie schloss mit ihren Worten Enid nicht ausdrücklich aus; trotzdem hatte Vespasia den unabweisbaren Eindruck, dass das ihre Absicht war und Enid das auch sehr wohl begriff.
Sie selbst hatte das Bedürfnis, sich von dem zu distanzieren, was da gesagt worden war. Während Denoon offen dafür eintrat, der Polizei größere Vollmachten zu geben, sodass sie schon beim bloßen Verdacht auf eine Straftat einschreiten konnte und nicht warten musste, bis Beweise vorlagen, war sie sehr viel zurückhaltender. Nicht nur fürchtete sie die Möglichkeit eines Missbrauchs dieser Vollmacht, sondern auch den Eindruck, den ein solches Vorgehen auf die Öffentlichkeit machen musste.
Cordelia und Denoon führten ihre Unterhaltung fort. Der Name Tanqueray wurde genannt, ein Treffen vorgeschlagen, dann fielen weitere Namen.
Vespasia sah zu Enid Denoon hinüber, die nicht einmal zuzuhören schien. Ihr regloses Gesicht wirkte verblüffend verletzlich, so, als sei Schmerz ihr etwas nur allzu Vertrautes. Ihr konnte nicht bewusst sein, welchen Eindruck sie erweckte, sonst hätte sie sich vermutlich bemüht, unbeteiligt zu wirken, obwohl weder Cordelia noch Denoon zu ihr hinsahen.
Im Vestibül hörte man Schritte. Gleich darauf wurde die Tür geöffnet, und alle wandten sich um, als Sheridan Landsborough eintrat. Zwar hatte Vespasia damit gerechnet, auf seinen Zügen Kummer zu sehen, doch war sie entsetzt, als sie die pergamentene Blässe seiner Haut, die eingesunkenen Wangen und die tiefen Ringe unter seinen Augen sah.
»Guten Morgen, Edward«, sagte er kühl und zwang sich zu einem Lächeln. »Enid.« Er sah seine Frau flüchtig an und wandte sich dann Vespasia zu. Seine Augen öffneten sich weit, und in seine Wangen kehrte ein wenig Farbe zurück. »Vespasia!«
Sie tat einen Schritt auf ihn zu. Die förmlichen Worte, die ihr in den Kopf kamen, traten ihr nicht auf die Lippen. »Es tut mir so Leid«, sagte sie ruhig. »Ich kann mir nichts Fürchterlicheres denken.«
»Danke«, sagte er leise. »Es ist sehr lieb, dass du gekommen bist.«
Enid trat näher zu ihm, fast, als merke sie selbst nichts davon. Als die Geschwister so nebeneinander standen, war die Ähnlichkeit zwischen ihnen unübersehbar. Es war weniger das Aussehen der Gesichter als die Kopfform, die Art zu stehen, die angeborene mühelose Anmut, die sich auch in einer Zeit wie dieser unmöglich ablegen ließ.
Cordelia sah ihn aufmerksam an. »Ich nehme an, dass alle Vorkehrungen getroffen sind?«
Sein Ausdruck wurde nicht weicher, als er ihren Blick erwiderte. »Gewiss«, gab er zur Antwort. »Es muss nichts weiter getan oder entschieden werden.« Seine Stimme klang tonlos. Vielleicht brauchte er diese vollkommene Beherrschung, um nicht zusammenzubrechen. Wenn er irgendeine Empfindung gezeigt hätte, wäre in seinem Inneren womöglich der Damm gebrochen und alles nach oben gespült worden. Haltung und Würde bedeuteten eine Art Fluchtmöglichkeit. Vespasia überlegte, dass die Distanz zwischen den beiden vielleicht auch als eine Art Schutz diente, der dafür sorgte, dass der eine nicht an die Wunde des anderen rührte.
Sie gewahrte in der Atmosphäre eine Art elektrische Spannung wie vor einem Gewitter. Das rief ihr ins Bewusstsein, dass ihre Anwesenheit den anderen unter Umständen lästig war. So wandte sie sich zu Cordelia. »Danke, dass Sie mich empfangen haben«, sagte sie mit einem leichten Neigen des Kopfes. »Ich weiß das sehr zu schätzen.«
Cordelia gab zurück: »Ihre Hilfe ist für uns äußerst wertvoll. Gerade jetzt müssen wir für das
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