Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
er zum ersten Mal dort war. Die Frau, deren blonde Haare sich aus den Nadeln lösten, lächelte beständig und begrüßte die meisten Gäste mit Namen. Das Lokal schien gut zu gehen.
Er bestellte einen zweiten Krug Apfelwein und dazu Brot mit Käse. Als sie das Verlangte brachte, tat sie das zwar mit dem üblichen Lächeln, doch erkannte er in ihren Augen Argwohn. Aus der Nähe sah er Falten an ihrem Hals und feine Linien in ihrem Gesicht. Trotz aller Energie und Munterkeit, die sie an den Tag legte, war sie wohl den Fünfzig näher als den Vierzig.
»Danke.« Er nahm Krug und Teller entgegen. »Sie führen ein ordentliches Haus und haben viele Gäste.«
Sie sah ihn aufmerksam an. Ihrem Blick war anzumerken, dass sie damit rechnete, er könne ihr Ärger bereiten. Ihm war selbst nicht wohl bei dem, was zu tun er im Begriff stand, aber er war auf die Angaben angewiesen.
»Ich komme zurecht«, sagte sie und tat so, als ob sie sich über seine Äußerung freue.
»So sehr, dass man den Gewinn auch noch ein bisschen teilen kann«, sagte er und ließ es eher wie eine Aussage als wie eine Frage klingen.
Die aufgesetzte Freundlichkeit verschwand von ihrem Gesicht. »Ich zahl schon …«, sagte sie kalt.
»Das ist mir bekannt!« Er wischte ihr Aufbegehren beiseite. »Und Sie können nicht zweimal zahlen. Auch das ist mir bekannt. Zahlen Sie einfach mir statt den anderen. Ich kümmere mich um die Sache. Es kommt Sie dann auch billiger. Nur regelmäßig muss es sein.«
»Muss es das?«, fragte sie voll Bitterkeit. »Un was sag ich dem ander’n, wenn er kommt? Dass er nix kriegt? Un Sie mein’n, der verschwindet dann einfach so?«
»Natürlich nicht. Sagen Sie mir, wann er kommt und wie er aussieht. Ich kümmere mich um ihn.«
Sie hob die Brauen. »Ach ja?« Sie sah sich um. »Sie alleine? Das sind Hunderte! Da steckt die ganze verdammte Polizei hinter! Wenn man da ein’n wegnimmt, komm’n zwei and’re nach. Un wie viele seid Ihr?«
Er überlegte nur einen kurzen Augenblick, bevor er antwortete. »Zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf. Sagen Sie mir einfach, wer er ist, wann er kommt und wie er aussieht, und ich schaffe Ihnen den vom Hals. Anschließend können Sie mich bezahlen.«
Sie wirkte verängstigt und ungläubig. In ihrem Blick lag die Gewissheit der Niederlage. Pitt spürte, wie eine Welle des Zorns in ihm aufstieg. Der Zorn war so stark, dass die Frau ihn in seinen Augen erkannte und zurückwich. Am liebsten hätte er sie um Entschuldigung gebeten, doch hätte er damit alles zunichte gemacht. »Name?«, sagte er laut.
»Jones«, gab sie zur Antwort. »Wir nennen ihn Taschen-Jones.«
»Wie sieht er aus?«
»Schmale Nase, schwarze Haare«, sagte sie und verzog den Mund. »Nicht besonders groß. Schwer zu sag’n, ob er dick oder dünn is, weil er immer ’nen weit’n Mantel anhat, Sommer wie Winter. Da versteckt er wohl was drunter.«
»Kommt er regelmäßig?«
»Wie die Steuer und der Tod.«
»Wann?«
»Mittwochs. Am Nachmittag, wenn hier nich viel los is.«
»Dann ist der kommende Mittwoch sein letzter«, sagte Pitt tief befriedigt.
Sie hielt seine offenkundige Zufriedenheit für Habgier und hob kaum wahrnehmbar die Schultern. »Für mich macht das kein’n Unterschied. Ob ich den bezahl oder Sie, is mir eins. Zweimal zahl’n kann ich nich, sons’ bleibt mir nix für de Brauerei. Dann hat keiner von uns was.«
Pitt wandte sich um und ging über den mit Sägespänen bedeckten Boden hinaus auf die Straße. Er durfte nicht weich werden und ihr Trost zusprechen, denn damit würde er alles Erreichte aufs Spiel setzen.
Bei Anbruch der Abenddämmerung wartete er am Eingang der Gasse gegenüber dem Haus, in dem Samuel Tellman wohnte, auf dessen Rückkehr. Der Wind war kälter geworden, und in der Luft lag der Geruch nach Regen. Er trat von einem Fuß auf den anderen. Er hatte hin und her überlegt, doch ihm war keine andere geeignete Lösung eingefallen. Wenn es jemanden gab, der etwas von der Korruption mitbekommen haben konnte, ohne selbst daran beteiligt zu sein, dann Tellman, denn er tat Dienst in der Wache in der Bow Street.
Mit dem einsetzenden Regen wurde der Wind noch kälter. Pitt schlug den Mantelkragen hoch und drückte sich näher an die Mauer. Allmählich kamen ihm Zweifel. Und wenn nun die Anarchisten alles andere als weltfremd waren und sich seiner ganz bewusst für ihre Zwecke bedienten? In erster Linie ging es ihnen darum, Chaos zu erzeugen. Welche bessere Methode aber
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