Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
gäbe es dafür, als Misstrauen zwischen Staatsschutz und Polizei zu säen und einen Keil zwischen beide zu treiben? Wusste er denn, ob sie nicht in umgekehrter Richtung dasselbe taten und gerade jetzt jemand der Polizei einzureden versuchte, die Anschläge wie auch die Ermordung von Magnus Landsborough seien das Werk Narraways, der sich seinen eigenen Machtbereich schaffen wolle? Zwar glaubte Pitt keine Sekunde lang an diese Möglichkeit, doch hätte er keinerlei Beweismittel, um eine solche Anschuldigung überzeugend zu widerlegen. Er war selbst erstaunt, wie wenig er über Narraway wusste.
Ein alter Mann, dessen weißes Haar unter der Krempe seines steifen Hutes sichtbar war, durchschritt rasch den Lichtkreis der Straßenlaterne und verschwand wieder. Im nächsten Augenblick tauchte Tellman auf, hager, hohlwangig und mit straffen Schultern.
Pitt verließ den Schatten der Gasse, eilte ihm nach und holte
ihn in dem Augenblick ein, als er die Haustür erreichte. Tellman sah ihn überrascht an.
»Ich muss mit Ihnen reden«, sagte Pitt in entschuldigendem Ton. »Möglichst unter vier Augen.« Er wagte nicht, Tellman rundheraus zu bitten, ihn mit nach oben zu nehmen. Normalerweise hätte er ihn in eins der umliegenden Wirtshäuser eingeladen, aber in dieser Situation war es von größter Wichtigkeit, dass niemand sie zusammen sah.
Tellman musterte Pitts Aufzug argwöhnisch, kannte ihn aber aus ihrer gemeinsamen Zeit gut genug, um sich den Hintergrund denken zu können. »Was gibt es?« Er wirkte gehemmt. »Es hat doch hoffentlich nichts mit Gracie zu tun?«
Pitt hatte ein schlechtes Gewissen, weil er nicht von Anfang an erklärt hatte, dass zu Hause alles in bester Ordnung war. Ihm war nicht entgangen, wie Tellman seinem Hausmädchen zögernd und täppisch den Hof machte, und er wusste, wie sehr ihm an ihr lag. »Nein«, sagte er. »Es geht um Polizeiangelegenheiten.«
Die Besorgnis verschwand aus Tellmans Gesicht. »Kommen Sie herein. Ich habe jetzt ein besseres und größeres Zimmer.« Ohne auf Pitts Antwort zu warten, schloss er auf und ging ihm voraus. Der Fußboden der kleinen Diele war mit Linoleum belegt, an den Wänden hingen gerahmte Stickmustertücher. Der Duft nach gebratenen Zwiebeln, der aus dem hinteren Teil des Hauses drang, erinnerte Pitt daran, dass er Hunger hatte.
Im ersten Stock schloss Tellman die Tür zu einem großen Zimmer auf, das zur Straße ging. In einer Ecke stand ein Messingbett, am Fenster Tisch und Stuhl, und am Kamin, in dem bereits ein munteres Feuer brannte, sah man zwei Sessel. Er forderte Pitt auf, Platz zu nehmen, und setzte sich dann ebenfalls, nachdem er seine Schnürsenkel gelöst und die Uniformjacke abgelegt hatte.
Pitt kam ohne Umschweife zur Sache. »Es geht um die Anschläge in der Myrdle Street«, sagte er. »Einer von den Anarchisten ist tot, und zwei haben wir gefasst. Einer ist entkommen, wenn nicht sogar zwei.«
Tellman wartete. Ihm war klar, dass Pitt nicht gekommen war, um die Polizei um Hilfe bei der Jagd nach entflohenen Anarchisten zu bitten.
»Ich habe die beiden verhört«, fuhr Pitt fort. »Sie sind jung und vertrauensselig, empören sich über Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft, ganz besonders aber über Korruption in der Polizei.« Er hielt den Blick aufmerksam auf Tellman gerichtet, um zu sehen, ob er sich ärgerlich zeigte oder den Vorwurf bestreiten wollte. Nichts dergleichen geschah. Er wartete einfach ab, bis Pitt weitersprach.
»Mein erster Gedanke war: Wieso ausgerechnet die Myrdle Street?«, fuhr Pitt fort. »Es sah mir ganz nach willkürlicher Gewalt aus. Dann habe ich erfahren, dass das bei der Explosion zerstörte Haus in der Mitte einem Polizeibeamten aus dem Revier Cannon Street gehörte. Er heißt Grover.«
Tellman nickte bedächtig. »Ich kenne ihn.«
»Was können Sie mir über ihn sagen?«
»Groß, breitschultrig, etwa fünfundvierzig.« Man sah, dass er sich den Mann vorstellte, während er über ihn sprach. »Ist mit ungefähr zwanzig in die Polizei eingetreten. Hat sich bis zum Oberwachtmeister emporgearbeitet, scheint aber nicht den Ehrgeiz zu haben, weiterzukommen. Er kennt in den Straßen seines Reviers jedes Haus und auch die meisten Menschen, die dort wohnen. Er kann Ihnen von jedem Straßenbettler, Hehler oder Geldfälscher sagen, wie er heißt und was seine Spezialität ist.«
»Woher wissen Sie das alles?«
Mit schmalen Lippen antwortete Tellman: »So etwas spricht sich herum. Wer wissen will, was im Revier Cannon
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