Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
gelungen«, sagte Narraway, den Federhalter nach wie vor in der Hand.
Pitt fuhr auf. »Sie wissen davon!« Er fühlte sich hintergangen, weil ihm Narraway die Sache verschwiegen hatte, als traue er ihm nicht zu, treu zu seinen Grundsätzen zu stehen, wenn es um seine früheren Kollegen ging.
Narraway sah ihn gelassen an. Auf seinem angespannten Gesicht waren im Sonnenlicht, das durch das Fenster links von ihm fiel, tiefe Linien zu erkennen. Seine Augen waren nahezu schwarz. Das früher ebenso dunkle Haar durchzogen inzwischen an den Schläfen graue Strähnen.
»Nein, Pitt, ich weiß nichts davon«, sagte er müde. »Ich kann es Ihnen ansehen. Ihr Gesicht verkündet es, wie ein Leuchtfeuer einem Schiff die Richtung zeigt. Wenn Sie die Anschuldigung widerlegen könnten, würden Sie auf keinen Fall um diese Tageszeit in mein Büro kommen und mir so etwas mitteilen, ohne zumindest ›Guten Morgen‹ zu sagen oder irgendeine einleitende Bemerkung zu machen, weil die Sache Sie in dem Fall kaum berühren würde.«
Pitt kam sich vor wie ein dummer Junge. Der gegen die Polizei erhobene Vorwurf hatte ihn, wie es schien, so tief getroffen, dass seine Urteilskraft darunter gelitten hatte. Er musste mehr auf der Hut sein, nicht unbedingt Narraway gegenüber, sondern ganz allgemein.
Mit trübseligem Lächeln fragte Narraway: »Und wie schlimm ist es?«
»Massive Einschüchterung«, gab Pitt zur Antwort und musste dabei an die Wirtin des Ten Bells denken. »Ein Teil der Einnahmen mehr oder weniger ehrlicher kleiner Gewerbetreibender wird regelmäßig abgeschöpft.«
Narraway machte eine finstere Miene. »Das geht uns nichts an, und es dürfte auch kaum der Anlass gewesen sein, einen Mann wie Magnus Landsborough in die Anarchie zu treiben. Dessen ungeachtet werde ich natürlich mit dem Polizeipräsidenten sprechen. Es sieht ganz so aus, als müsste er in seinem Haus Ordnung schaffen. Tut mir wirklich Leid. Es ist nicht schön, wenn man merkt, dass unter den eigenen Leuten Korruption herrscht.« Er senkte den Blick wieder auf seine Papiere. Als sich Pitt nicht vom Fleck rührte, sah er wieder auf. »Hat man etwa deshalb die Häuser in der Myrdle Street gesprengt?«
»Ja. Eins davon gehörte einem Mann von der Wache in der Cannon Street, eben jenem Grover, von dem Welling gesprochen hat. Carmody zufolge ist er in die Schutzgeld-Erpressung verwickelt, und allem Anschein nach hat Magnus Landsborough alles über ihn gewusst. Haben Sie eine Verbindung zwischen Landsborough und ausländischen Anarchisten feststellen können?«
»Nein. Wir wissen, wo sich die aktivsten und fähigsten von ihnen befinden.« Narraway verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Die anderen haben sich mit ihrer Untüchtigkeit selbst in die Luft gejagt und liegen entweder im Krankenhaus oder auf dem Friedhof. Soweit ich sagen kann, hatte Landsborough keine Kontakte zum Festland. Sofern man Welling und Carmody als typisch ansehen darf, handelt es sich bei den Leuten um treuherzige Idealisten, die unsere Gesellschaft reformieren wollen, aber nicht die Geduld haben, ihre Ziele auf die übliche Weise zu verfolgen. Sie bilden sich ein, sie könnten ein besseres System errichten, wenn sie zuvor das bestehende zerstören. Das ist natürlich Unsinn, aber ohne die Sprengstoffanschläge könnte man sie sozusagen als Heilige betrachten.«
Pitt sah ihn aufmerksam an und versuchte abzuschätzen, welche Empfindungen hinter Narraways Worten lagen. Hatte er etwa Verständnis für die jungen Menschen, die sich durch offenkundige Ungerechtigkeiten zu unbedachten Handlungen hatten hinreißen lassen, weil sie glaubten, die Welt zum Besseren verändern zu können? Oder war das einfach eine kühle Einschätzung der Lage, die es ihm ermöglichte, sein weiteres Handeln zu bestimmen und sich zugleich auch ein besseres Bild von Pitt zu machen?
»Darüber zerbreche ich mir den Kopf nicht«, sagte Pitt und sah, dass in Narraways Gesicht Überraschung aufblitzte. »Ich war gestern Abend bei Samuel Tellman – in seiner Wohnung, nicht etwa in der Bow Street«, fügte er rasch hinzu, als er Narraways missbilligenden Blick sah. »Ich habe ihm gesagt, was ich über Wellings und Carmodys Anschuldigungen weiß und was ich ermittelt habe.«
»Rühren Sie um Gottes willen kein Wespennest auf, Pitt!«, fuhr Narraway auf.
»Tellman hat es sofort geglaubt«, sagte Pitt. »Ohne Beweise. Und ihm ist klar, dass die Sache noch weiter nach oben reichen muss.«
»Selbstredend«, knurrte
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