Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
Abendessen stand auf dem Tisch. Während der Mahlzeit kam er weder auf seine missliche Lage noch auf die Korruption in der Polizei zu sprechen. Er wusste, dass Charlotte sofort aus seiner Stimme heraushören würde, wie nah ihm das alles ging, und dann würde auch sie leiden, weil ihr klar sein würde, dass noch so verständnisvolle Worte, noch so viel Freundlichkeit und auch ihr gegenseitiges Vertrauen, ihre tröstenden Umarmungen, nichts an der Wirklichkeit ändern würden, der er sich stellen musste.
Als der Tisch abgeräumt war, setzte er sich behaglich in seinen Sessel im Wohnzimmer und sah Charlotte zu, wie sie sich über ihre Stopfarbeit beugte. Das Licht der Gaslampe neben ihr warf den Schatten ihrer Wimpern auf eine Wange. Flink zogen ihre Finger die Nadel durch das Leinen, und er war froh, sie nicht beunruhigt zu haben.
Man hörte nichts als das leise Zischen der Gasflamme und das Klicken, mit dem die Nadel von Zeit zu Zeit gegen den Fingerhut stieß. Die Art, wie sie da saßen, war das Urbild häuslichen Behagens. Diese Gemeinsamkeit, die keiner Worte bedurfte, war ihm nach einem Arbeitstag wichtiger als eine Mahlzeit oder die Wärme des Hauses, wichtiger als freie Zeit, über die er nach Belieben verfügen konnte. Alles, was sie gemeinsam taten, war wichtig. Auch wenn sie nicht unbedingt immer einer Meinung waren, sie gingen einen Weg, den beide für richtig hielten. Ob er Erfolg hatte oder nicht, ob er von Energie überquoll oder zu müde war, um zu denken, immer war sie da, in seiner Nähe.
Es wäre töricht, sie zu ängstigen, indem er ihr erklärte, er werde mit Voisey zusammenarbeiten, und ebenso töricht wäre es, sie mit der Korruption in der Polizei zu belasten. Ohnehin, überlegte er, fand sich vielleicht eine bessere Lösung, wenn er gründlich über die Sache nachdachte.
Er würde Jack Radley um Rat fragen. Bei ihm war er vor der richtigen Schmiede. Der Mann von Charlottes Schwester Emily war ebenfalls Unterhausabgeordneter und hatte im Laufe der Jahre viel Erfahrung gesammelt. Gleich am nächsten Morgen würde er ihn aufsuchen und mit ihm sprechen. Für heute schob er die ganze Sache von sich und genoss sein behagliches Zuhause.
»Tanqueray«, sagte Jack mit Schärfe in der Stimme. Er hatte sich entschlossen, Pitt nicht in seinem Abgeordnetenbüro zu empfangen, wo Mitarbeiter, Parlamentsdiener oder andere Parlamentarier sie stören konnten, und so war er mit ihm auf die große Terrasse des Unterhauses gegangen, von wo aus der Blick weit über die Themse schweifte. Wie sie da mit dem Rücken zum lang
gestreckten gotischen Palast von Westminster und zum Uhrturm mit der als Big Ben bekannten Glocke standen, fielen sie nicht weiter auf und durften hoffen, niemandes Aufmerksamkeit zu erregen.
»Es stimmt also?«, fragte Pitt rasch. Während zwei ältere Herren an ihnen vorübergingen, stieg ihm Zigarrenrauch in die Nase. Der Sonnenschein glänzte auf dem Wasser. Schleppzüge ließen sich von der Flut stromaufwärts schieben.
»Gewiss«, sagte Jack mit Nachdruck. »Und eine ganze Reihe von Abgeordneten unterstützen ihn. Eigentlich sind sie die treibende Kraft dahinter – Tanqueray ist lediglich eine Art Sprachrohr. Das ist eins der vielen Dinge, die mir Sorgen machen. Ich weiß gar nicht, wer wirklich hinter diesem Bestreben steht, die Polizei durchgehend zu bewaffnen.«
»Ist denn der Antrag keine Reaktion auf den Anschlag in der Myrdle Street?«, fragte Pitt.
Jack lächelte trübselig. »Natürlich machen sich die Leute das zunutze, aber sie sind weit besser vorbereitet, als das in einem oder zwei Tagen möglich gewesen wäre. Der Antrag muss zwar noch genau ausformuliert werden, aber sie haben alle Hauptargumente beisammen. Sie versuchen, die Meinung der anderen auszuloten, und stoßen dabei, wie sich zeigt, auf viel Zustimmung. Das Verbrechen auf den Straßen hat im Lauf des vergangenen Jahres stark zugenommen.« Er warf einen Seitenblick auf Pitt, die Augen gegen die Sonne zusammengekniffen. »Jeder weiß von jemandem, der ausgeraubt worden ist, in einen hässlichen Zwischenfall verwickelt wurde oder auf dem Heimweg lieber einen Umweg gemacht hat, um nicht Opfer eines Überfalls zu werden. Vielleicht ist dir das nicht besonders aufgefallen, weil du jetzt beim Staatsschutz und nicht mehr bei der Polizei bist.«
»Was mir auch nicht aufgefallen ist«, sagte Pitt leise, »ist die Korruption in der Polizei.«
»Korruption?«, fragte Jack mit gerunzelter Stirn. »Wo? Wie kommst du
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