Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
brauchbar, jedenfalls meiner Ansicht nach. Er stützt sich zu sehr auf die Annahme, der Mensch sei von Natur aus gut, und auf den Glauben, einsichtsfähige Menschen sollten lernen, sich ohne das störende Eingreifen einer Regierung um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern.« Ein betrübtes Lächeln umspielte seine Lippen. »Der Haken ist nur: Wer soll darüber entscheiden, welche Menschen einsichtsfähig sind und welche nicht? Und was ist mit denen, die faul sind, unfähig oder nichts zum allgemeinen Wohl beisteuern wollen, die sich einfach aufsässig verhalten? Außerdem wird es immer Kranke, Alte und solche Menschen geben, deren Geistesgaben nicht ausreichen, für sich selbst zu sorgen. Wer soll sich um die kümmern, und wer weist die in ihre Schranken, die andere belügen, bestehlen oder tyrannisieren? Hier ist die Übereinstimmung aller nötig, womit wir wieder bei der Regierung landen.«
»Und bei der Polizei«, gab ihm Pitt Recht, dem das, was Jack da über die Theorie der Anarchisten gesagt hatte, weitgehend neu war. Das ließ Magnus Landsborough, aber auch Jack selbst, in einem anderen Licht erscheinen. Wie es aussah, durfte man in der Anarchie nicht nur den bloßen Protest sehen, sondern musste sie wohl ein wenig ernster nehmen, als er das bisher getan hatte, zumindest als Gedankengebäude.
»Da gibt es noch etwas«, sagte er. »Ich bin gestern Voisey begegnet, am Themseufer.«
Jack erstarrte. »Was du nicht sagst!«
Pitt teilte ihm mit, was Voisey über Wetrons angebliche Absicht gesagt hatte, immer weiter aufzusteigen, bis er schließlich praktisch ganz London beherrschte.
»Grundgütiger!«, entfuhr es Jack. Dann senkte er die Stimme, weil er merkte, dass er mit diesem Ausruf die Aufmerksamkeit einer Gruppe von Männern auf sich gelenkt hatte, die in der Nähe vorübergingen. »Der Kerl muss verrückt sein! Was meinst du?«, fragte er ungläubig. »Was sagt Narraway dazu?«
»Ich weiß nicht«, räumte Pitt ein. »Ich habe ihm noch nichts davon gesagt.«
»Und wann gedenkst du das zu tun?«
»Sobald ich von hier weggehe.«
»Trau Voisey nicht über den Weg!«, mahnte Jack eindringlich. »Er verzeiht nichts und vergisst nichts. Er wollte Präsident des Landes werden, und das hast in erster Linie du verhindert, mit Lady Vespasias Hilfe. Auch das hat er mit Sicherheit nicht vergessen.«
»Ist mir klar«, erwiderte ihm Pitt. »Hätte Voisey mich nicht auf die Straße setzen lassen, wäre nach wie vor ich Leiter der Wache in der Bow Street und nicht dieser Wetron. Aber ändert das etwas am Wahrheitsgehalt der Vorwürfe gegen Wetron?«
Jack sah ihn an. Sein Gesicht war bleich. Der Wind wurde stärker und zerrte an seinen Haaren. »Nein«, gab er zögernd zu. »Wohl nicht. Was führt Voisey im Schilde? Er hat dir das doch bestimmt nicht gesagt, ohne es mit einer Forderung zu verbinden?«
»Ich soll mit ihm zusammenarbeiten, um Wetron in den Arm zu fallen«, sagte Pitt.
»Das kannst du nicht tun!« Jack war entsetzt. »Thomas, du kannst unmöglich mit Voisey zusammenarbeiten! Er jagt dir bei erster Gelegenheit kaltblütig ein Messer in den Rücken. Das weißt du doch, zum Kuckuck!«
»Ja.« Pitt schlug den Mantelkragen hoch. »Der Haken ist allerdings, dass er möglicherweise Recht hat. In dem Fall muss unbedingt verhindert werden, dass Wetron am Schluss praktisch ganz
London und damit das Herz des britischen Weltreichs beherrscht.«
Jack antwortete nicht. Sie standen schweigend da und dachten über die Ungeheuerlichkeit der Situation nach.
»Noch etwas«, sagte Pitt schließlich und machte sich daran, den Weg zurückzugehen, den sie gekommen waren. »Wenn nun Wetron doch nicht so gerissen ist, wie er denkt, und ihm jemand aus dem Inneren Kreis in den Rücken fällt, unter Umständen jemand, der gute Kontakte zu ausländischen Mächten hat? Ich habe keine Vorstellung davon, ob die Verschwörung auf England begrenzt ist, und die Möglichkeit lässt sich nicht von der Hand weisen, dass ein Mitglied des Inneren Kreises bereit sein könnte, England zu verraten. Es hat dort schon früher Interessengruppen und einen Wechsel an der Spitze gegeben. Entsprechendes kann jederzeit wieder geschehen.«
Die Stirn nachdenklich in Falten gelegt, hielt Jack den Blick gesenkt. »Du glaubst also nicht, dass sich Voisey das alles aus den Fingern gesogen hat, um dich zu benutzen, damit du für ihn Wetron unschädlich machst?«, fragte er. In seiner Stimme lag keinerlei Überzeugung. »Bestimmt hasst er ihn noch
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