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Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman

Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman

Titel: Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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bestimmten Gebieten las er, was ihm in die Finger fiel: historische und naturwissenschaftliche Werke, Biografien und Lyrik. Romane hatte Pitt höchstens in Übersetzungen aus fremden Sprachen bei ihm gesehen, vor allem aus dem Russischen. Doch was seine Gefühle erregte, was ihn bedrückte oder nachts im Traum quälte, davon wusste Pitt nichts.
    »Bieten Sie den beiden einen Straferlass an«, drang Narraways Stimme in seine Gedanken, »für den Fall, dass sie bereit sind, uns Angaben zu liefern, die es uns ermöglichen, der Korruption der Polizei ein Ende zu bereiten und weitere Anschläge zu verhindern, bei denen Menschen ums Leben kommen könnten. Wie Sie das formulieren, ist mir gleich. Hauptsache, es funktioniert.«
    Pitt war verblüfft. »Völlige Straffreiheit?«, fragte er ungläubig.
    Narraway sah ihn aufmerksam an. »Eigentlich hatte ich gedacht, das würde Ihnen gefallen! Natürlich mache ich das Angebot nicht deswegen. Aber verkaufen Sie es nicht zu billig.«
    Mit einem Mal hob sich Pitts Stimmung. »Wen müssen Sie fragen, um das durchzusetzen? Wann werden wir es wissen?«
    Narraway steckte die Hände in die Taschen. »Das ist alles geregelt.« Ein Anflug von Belustigung trat ihm in die Augen. »Sehen Sie zu, was Sie herausholen können.«

    Um fünf Minuten vor zwölf schritt Pitt über den schwarz-weißen Steinboden der St.-Paul’s-Kathedrale und ging die Stufen zur Krypta hinab, wobei er so leise aufzutreten versuchte, dass er die Stille des Raumes nicht störte. Er sah zwei andere Besucher: einen alten Mann mit schütterem Haar und einem milden, verträumten Gesicht und eine junge Frau, die sich auf ein Blatt Papier in ihrer Hand zu konzentrieren schien. Keiner der beiden sah ihn an, als er vorüberging.
    Tafeln an den Wänden ehrten das Andenken zahlreicher berühmter Männer, die in großen Schlachten der Vergangenheit gefallen waren. Voll Verblüffung fiel ihm auf, wie viele von ihnen Kapitäne in der Königlichen Marine gewesen waren und in der
Schlacht von Trafalgar das Leben verloren hatten. Er musste daran denken, wie finster Englands Zukunft zu jener Zeit ausgesehen hatte, als Napoleon den europäischen Kontinent eroberte und sich an dessen Gestaden daran machte, die Hand nach England auszustrecken. Damals hatte es ausgesehen, als könne nichts ihm Einhalt gebieten.
    Pitt hob den Blick zu der Stelle, wo im Herzen der Krypta Horatio Nelsons gewaltiges steinernes Grabmal stand. Voisey war schon da. Galten seine stillen Gedanken dem Heldentum, dem Opfermut und Kriegsglück, die der Geschichte in einer einzigen Schlacht eine andere Richtung zu geben vermochten? Und war die Führerschaft eines einzigen fähigen, mutigen und bisweilen verschrobenen Mannes, der über den nötigen Weitblick verfügte, dazu angetan, auf all dies einen bestimmenden Einfluss auszuüben? Der Signalspruch, den Nelson vor dem Angriff an die Flotte hatte ergehen lassen, war nicht nur in die Geschichte eingegangen, sondern möglicherweise auch Bestandteil all dessen, was es bedeutete, Engländer zu sein: »England erwartet, dass jeder Mann seine Pflicht tut.«
    Warum nur war Voisey gerade auf dieses Grabmal unter all den vielen in der großen Kathedrale verfallen? Es gäbe Dutzende anderer Treffpunkte, die sich ebenso leicht hätten finden lassen. Und warum war er vor der vereinbarten Zeit gekommen? Sollte das sein erster taktischer Fehler sein? Das wäre erstaunlich. Pitt hatte angenommen, er werde etwa zehn Minuten später kommen, nicht spät genug, um Pitt einen Vorwand zum Fortgehen zu geben, wohl aber hinreichend verspätet, um ihn in eine ungünstige Position zu bringen und ihn Befürchtungen hegen zu lassen, so, als sei der Bittsteller er und nicht Voisey.
    Er blieb stehen, um festzustellen, ob sich Voisey suchend nach ihm umsehen würde. Das tat er nicht. War seine Selbstsicherheit größer, als sein frühes Eintreffen vermuten ließ? Oder konnte er Pitts Spiegelbild in der glatten schwarzen Marmorfläche des Grabmals sehen?
    Für den Fall, dass es sich so verhielt, tat Pitt lächelnd einige
Schritte auf ihn zu. Er wollte seinen Vorteil nicht dadurch aufs Spiel setzen, dass er den Anschein erweckte, ihn auszukosten, so, als sei ihm das wichtig.
    »Guten Morgen, Sir Charles«, sagte er. Ganz bewusst bediente er sich der förmlichen Anrede. Sie sollte Voisey daran erinnern, dass bei ihrer beider größten Auseinandersetzung Pitt Sieger geblieben war. Er hätte ihn lieber anders angeredet, doch hätte er damit dem

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