Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
verspreche ich dir!«, gab er mit großer Erleichterung zurück. Am liebsten hätte er sie in die Arme genommen und geküsst, aber so vor aller Augen würde sie sich zu Tode schämen. Allmählich nahmen die Menschen um sie herum wieder ihre Plätze ein, Röcke raschelten, man hörte gemurmelte Entschuldigungen und unterdrückte Aufschreie, wenn jemand einem anderen auf die Zehen trat.
Gracie saß ganz steif da, das Kinn emporgereckt. Sie zog die Nase leicht hoch und suchte nach einem Taschentuch. Ihr Gesicht
leuchtete vor Stolz und Erregung, und das hatte weder etwas mit den Schlangenmenschen zu tun, deren Auftritt bevorstand, noch mit dem Clown, der sie zum Lachen bringen würde, und auch nicht mit dem Sänger, der danach an die Reihe kam und in dessen mitreißende Lieder das ganze Publikum einfallen würde.
Tellman lächelte so breit, dass der Mann neben ihm annahm, er habe einen der besten Witze verpasst, ohne dass er es gewagt hätte nachzufragen.
Als Tellman am nächsten Morgen bei Dienstantritt eine Notiz vorfand, er möge sich umgehend bei Hauptkommissar Wetron melden, waren alle Vergnügungen des Vorabends wie weggewischt.
»Ja, Sir?«, sagte er, sobald er vor Wetron stand, der hinter seinem untadelig aufgeräumtem Schreibtisch saß. Sein Mund war wie ausgedörrt.
Wetron hob den Blick. Dabei sah man, dass er allmählich eine Stirnglatze bekam.
»Ah … Tellman.« Er lehnte sich leicht zurück und musterte seinen Untergebenen mit stählernen Augen. Sein schmaler Mund bildete eine scharfe Linie. »Ich wusste gar nicht, dass in unserem Revier Fälschungen auftreten, wenn man von gelegentlichen Einzelstücken absieht, die meist so schlecht gemacht sind, dass praktisch niemand darauf hereinfallen würde.«
Tellman spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. »Ich bin überzeugt, dass es so ist, Sir, und es wäre mir lieb, wenn es so bliebe.«
»Nun habe ich aber von der Cannon Street erfahren, dass Sie gestern dort einen Mann festgenommen und hierher gebracht haben. Stimmt das?«
»Ja, Sir. Ich hatte Grund anzunehmen, dass der gefälschte Geldschein, den er bei sich trug, aus unserem Revier stammt und wir deshalb zuständig sind.« In gewisser Hinsicht entsprach das der Wahrheit. Trotzdem musste er bei seiner Wortwahl größte
Vorsicht walten lassen. Er hatte keine Vorstellung, was Stubbs möglicherweise schon gesagt hatte.
»Geht es um einen Fünf-Pfund-Schein?« Wetron hob kaum wahrnehmbar die Brauen. Der Klang seiner Stimme ließ den Eindruck aufkommen, als messe er der Sache praktisch keine Bedeutung bei.
Tellman fühlte sich gekränkt, durfte das aber auf keinen Fall zeigen.
Ein Anflug von Belustigung trat auf Wetrons hartes Gesicht. Er sagte nichts.
Dann ging Tellman auf, was sein Vorgesetzter von ihm erwartete: Er sollte sich entschuldigen und möglichst rasch verschwinden, so, als habe er Angst oder sei sich einer Schuld bewusst. Zorn flammte in ihm auf, aber auch das Bewusstsein, dass er mit größter Umsicht vorgehen musste. Wetron würde sich jedes Wort merken, das er sagte, jede Tonfärbung, sogar die Art, wie er stand, und den Ausdruck auf seinem Gesicht. Er war keinesfalls bereit, klein beizugeben.
»Ich war in dem Augenblick der Ansicht, Sir, dass diese Fälschung von besonderer Bedeutung sein könnte«, sagte er und straffte sich ein wenig. »Anarchisten brauchen Geld. Um Grovers Haus und die Häuser links und rechts davon in die Luft zu sprengen, war wohl ziemlich viel Dynamit nötig.«
Mit tiefer Befriedigung sah er, dass der Ausdruck von Unsicherheit in Wetrons Augen trat. Doch so schnell er gekommen war, verschwand er auch wieder.
»Das ist wohl richtig«, stimmte Wetron zu. »Ich wusste gar nicht, dass Sie sich so sehr für den Fall interessieren. Andererseits ist das natürlich verständlich. Ich nehme an, dass Sie sich Pitt nach wie vor verbunden fühlen.« Er schwieg einen Augenblick, um die in seiner Anspielung enthaltene Zweideutigkeit wirken zu lassen. »Er ist doch mit den Ermittlungen in der Sache betraut, nicht wahr?«
Mit großer Erleichterung, wie ein Läufer, der ins Straucheln geraten ist und das Gleichgewicht wiedergefunden hat, fiel
Tellman ein, dass das in den Zeitungen gestanden hatte. »Ja, Sir, so heißt es in der Presse«, antwortete er. »Ich mache mir aber Sorgen, weil Grover einer von uns ist.«
»Mir war gar nicht bewusst, dass Sie ihn kannten.«
»Das ist auch nicht der Fall, Sir. Aber wenn es diesmal ihn getroffen hat, kann es beim nächsten Mal
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