Flammenbraut
Teufel tue ich hier? Der Blutverlust würde sie vermutlich einknicken lassen, bevor sie ihn erreichte, und außerdem hatte sie das Messer bei ihrer Flucht aus dem Keller verloren. Sie kannten ihn jetzt, wussten seinen Namen. Sie würde es Frank erzählen, die Polizei würde ihn festnehmen … was konnte sie allein schon ausrichten?
Sie rannte weiter.
Sie war erst auf der Hälfte des Abhangs, als Corliss die Talsenke erreichte und nach Westen weiterlief, weg vom Bahnhof. Er verschwand in der Dunkelheit und dem leichten Nebel, der über dem Tal schwebte.
Ein spärlicher, aber zäher Busch streifte sie am Schienbein. Die letzten Meter rollte sie den Abhang hinunter, doch immerhin war sie nun unten. Ein Rufen hinter ihr und ein schwacher Lichtstrahl sagten ihr, dass die Bauarbeiter eine Taschenlampe gefunden hatten und ihr folgten. Aber sie waren viel zu weit hinter Corliss, ebenso wie sie.
Dann hörte sie ihn, ein überlautes Keuchen. Vielleicht konnte sie ihn doch noch einholen. Schließlich war er zwanzig Jahre älter und hatte eine Stichwunde. In diesem Moment stolperte sie über eine Schiene, stieß sich den Ellbogen an einer Schwelle und schlug sich den Schädel fast an der zweiten ein.
Durch eine Lücke im Nebel sah sie ihn, wie er schneller wurde und über die nächsten Gleise rannte, als ob er ihre Anordnung auswendig kannte.
Sie wusste, sie sollte stehen bleiben. Es war nicht ihre Aufgabe, Mörder zu verfolgen. Sie sollte Frank anrufen. Hatte sie ihr Handy überhaupt noch?
Sie hoffte, Rachael war noch nicht zurück zum College gefahren.
Wo wollte Corliss überhaupt hin?
Theresa rappelte sich mit ihren blutenden Händen auf und lief weiter, nahm sich aber die Zeit, auf die Schienen auf dem Boden zu achten. Es mochte zwar nicht ihre Aufgabe sein, Edward Corliss zur Rechenschaft zu ziehen, aber das war ihr im Moment egal. Vielleicht wollte sie ihn einfach nur zu Brei schlagen.
Der Zug, den sie in der Ferne gehört hatte, näherte sich ihnen mittlerweile von Osten, seine Scheinwerfer ließen den Nebel wie ein lebendes Wesen wirken. Corliss rannte auf den Zug zu, versuchte, das eiserne Monster zu schlagen und es zwischen sich und Theresa zu bringen. Sein Vater hatte sich über ein Jahrzehnt wie ein Phantom durch Cleveland bewegt. Edward hatte von ihm gelernt zu töten. Vielleicht hatte er auch gelernt zu verschwinden.
Der feuchte Nebel peitschte ihr ins Gesicht, half jedoch nicht, ihre müden Beine zu beleben. Sie versuchte verzweifelt, noch mehr Adrenalin in sich zu mobilisieren, sich anzutreiben … Du kannst es versuchen, solange du willst, erklärte ihr ihr über vierzig Jahre alter Körper. Da ist nichts mehr.
Aber er durfte einfach nicht entkommen.
Sie rannte weiter.
Corliss fehlten nur noch ein paar Meter bis zum Gleis, doch er musste es auch noch überqueren, bevor die an Geschwindigkeit zulegende Lokomotive ihn traf … vielleicht ließ die Vorstellung, wie der Kuhfänger ihm die Füße abtrennte, ihn zögern. Vielleicht wusste er, dass er es nicht schaffen würde. Er wurde langsamer. Die Lokomotive fuhr dröhnend an ihm vorbei, versperrte ihm den Fluchtweg und war definitiv zu schnell, als dass er hätte aufspringen können.
Als er stehen blieb, verlangsamte auch Theresa ihre Schritte, so automatisch, dass ihr Gehirn es erst nach ein paar Sekunden registrierte.
Der Nebel arbeitete sowohl für als auch gegen sie, nahm das Licht von den Bauarbeitern hinter ihr und verbreitete es als diffusen Schein im Tal, wodurch einige Abschnitte besser zu erkennen waren. Doch das Wabern des Nebels sorgte dafür, dass auch die Welt um sie herum sich bewegte, sodass Entfernungen schwer einzuschätzen waren.
Zum Beispiel konnte sie den Zug sehen, der an Corliss vorbeifuhr. Doch es sah so aus, als ob sein Ende sich sehr schnell näherte, zu schnell, so schnell, dass Corliss immer noch fliehen konnte, bevor sie ihn erreichte. Der Zug bestand nur aus fünf bis zehn Waggons, war nicht lang genug, um Corliss lange festzusetzen.
Vielleicht spielte ihr das Licht auch nur einen Streich. Sie blinzelte in den Nebel, trat in eine Kuhle und vertrat sich den Knöchel. Der aufschießende Schmerz ließ sie in die Knie sinken.
Corliss begann auf das Zugende zuzurennen, wurde immer schneller.
Theresa hievte sich auf ihren unverletzten Fuß und rannte weiter. Der letzte Waggon, blau mit einer hellen Leuchte am Ende, kam auf sie zu.
»Corliss!« Als ob Schreien jetzt etwas hätte bewirken können …
Für den Bruchteil
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