Flammenbucht
Parzer abfällig. »Und wie erklärst du dir dann, daß es heute meist umgekehrt läuft, Krabbensammler? Heute zieht es jeden Dreckschrubber aus der Stadt zurück ins Dorf. Denk etwa an Lynis, die Braut vom jungen Stolling - die war närrisch genug, ihm nach Rhagis zu folgen, als er ihr schöne Augen machte. Bei uns erhoffte sie sich freie Landluft und Abenteuer - und jetzt steht sie bei Stolling in der Küche und spült unsere besabberten Krüge.« Er stieß ein meckerndes Lachen aus und lehnte sich zum Schenker hinüber. »Stolling, du gerissener Perlentaucher, laß uns auf deine reizende Lynis anstoßen! Schick sie mit ein paar Humpen Bier herein, damit sie uns das Loblied auf Rhagis zwitschert.«
Mit Begeisterung wurde Parzers Vorschlag von den anderen Gästen aufgegriffen. Stolling, dem es zu spät in den Sinn gekommen war, das Schenkertürchen rechtzeitig wieder zu schließen, sah sich einer johlenden Meute ausgesetzt, die den Namen seiner Frau skandierte. Um die aufgeladene Stimmung nicht weiter anzuheizen, reichte er hastig einige Bierkrüge durch den Schenker und erntete dafür Hochrufe.
Derweil rückte Cornbrunn an Aelarians Seite. »Ihr hattet recht, Großmerkant - diese Kneipe ist ganz nach meinem Geschmack! Ich frage mich allerdings, ob Euch diese Leute wirklich erzählen werden, was Ihr von ihnen wissen wollt. Bisher sind sie Euren Fragen geschickt ausgewichen.«
Aelarian griff nach einem Bierkrug, der ihm von unbekannter Hand entgegengestreckt wurde. »Abwarten, Cornbrunn! Wenn sie erst genug gesoffen haben, werden sie gesprächiger. Und nun sieh zu, daß du ein Bier ergatterst, bevor dieser jähzornige Wirt es sich anders überlegt.«
Brackiges Wasser schwappte gegen die Mauern des Hafenbeckens. Ein Eimer trudelte in den Wellen, stieß mit dumpfem Laut gegen den Bug eines Schiffes. Auf einem Pfosten, der aus dem Wasser emporragte, saß ein Möwenpaar, das die Schnäbel aneinanderrieb wie bei einem erhabenen Fechtkampf. Aus den nahen Speichergebäuden drangen die Rufe der Hafenarbeiter; Fässer wurden umhergerollt, Kisten gewuchtet, Tuchballen geschnürt. Trotz dieser Geräusche wirkte das Leben im Hafen von Galbar Are erstarrt; nur wenige Schiffe legten in diesen Tagen an oder stachen in See, denn die Zeit der großen Stürme war angebrochen - und das Licht des Leuchtturms erloschen.
Ashnada kauerte im Schatten eines verfallenen Speichergebäudes. Es war Abend geworden; das Licht der wolkenverhangenen Sonne schwand, und bald würde sich Dunkelheit über den Hafen legen. Ashnadas Gesicht war bleich, ihre roten Haare leuchteten noch greller als sonst.
Sie war schon einmal hier gewesen, vor langer Zeit; hatte sich in finsterer Nacht mit vier anderen ›Gnadenlosen‹ in die Stadt geschlichen, um im Hafen ein Schiff zu überfallen, auf dem ein reicher Kaufmann, das Oberhaupt einer ehrwürdigen Familie aus Galbar Are, die Nacht verbrachte. Den Wachtposten am Kai hatten sie niedergestochen, den Kaufmann schlafend in seiner Koje überrascht, ihn gefesselt, geknebelt… Hörte Ashnada nicht noch manchmal, wenn sie nachts aus dem Schlaf fuhr, sein panisches Keuchen? Sah sie nicht seine weitaufgerissenen Augen, sein blutbesudeltes Gesicht? Sie hatten ihn nicht geschlagen; die Angst hatte sein Herz so schnell rasen lassen, daß das Blut aus seinen Nasenlöchern gespritzt war. Sie hatten ihn an Deck geschleift, ihm die Kleidung vom Leib gerissen, seinen fetten Wanst aufgeschlitzt und ihn am höchsten Mast des Schiffes aufgeknüpft; dort sollte ihm am nächsten Morgen die Mannschaft finden. Angst und Schrecken, die Handschrift der ›Gnadenlosen‹, die überall zuschlagen konnten, an jedem Ort auf Morthyl… wie stolz waren sie damals gewesen, wie sehr hatten sie sich gegenseitig beglückwünscht für diesen Mord, für den ihr König sie mit der höchsten Auszeichnung belohnen würde, wenn sie nach Gyr zurückkehrten - der Berührung seiner segnenden Hände…
Ashnada wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
Halte deine Gefühle in Zaum,
hörte sie in Gedanken Rumos' mahnende Worte.
Laß dich nicht von deinen Erinnerungen beherrschen !
Nein, sie war nicht gekommen, um von Erinnerungen gequält zu werden, sich einem Schmerz hinzugeben, den sie nie gefühlt hatte und niemals hatte fühlen wollen. Rumos hatte ihr befohlen, im Hafen jene Verräter ausfindig zu machen, die Waren nach Fareghi schmuggelten. Diese Aufgabe würde sie erfüllen. Vielleicht half sie ihr, zu vergessen, zu vergessen… Hinter den
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