Flammendes Eis
heute der erste April ist.«
»Charlie, das ist
kein Scherz
«, sagte Jenkins wütend. »Diese Welle wird mit voller Wucht in den Hafen einschlagen. Ich weiß nicht, wie stark genau, weil es viele unbekannte Größen gibt, aber das Motel liegt mitten im Weg.«
Der Chief lachte erneut. »Was soll’s, manche Leute wären wirklich froh darüber, das Harbor View im Meer landen zu sehen.«
Das zweistöckige Gebäude, das auf Pfählen im Hafenbecken stand, hatte monatelange Kontroversen hervorgerufen. Errichtet worden war es erst nach einem erbitterten Streit, einem teuren Gerichtsverfahren seitens des Bauherrn und – so argwöhnten viele – der Bestechung einiger Entscheidungsträger.
»Dieser Wunsch wird sich erfüllen, aber vorher musst du noch die Gäste retten.«
»Verdammt, Roy, da wohnen mindestens hundert Leute. Ich kann sie nicht einfach so verscheuchen. Das wird mich meinen Job kosten. Und was noch viel schlimmer ist, ich mache mich damit zum Gespött der ganzen Stadt.«
Jenkins sah auf die Uhr und stieß einen leisen Fluch aus. Er hatte den Chief nicht in Panik versetzen wollen, aber nun verlor er die Beherrschung.
»Du dämlicher alter Narr! Wie wirst du dich wohl fühlen, wenn hundert Leute
sterben
, weil
du
Angst davor hast, ausgelacht zu werden?«
»Du machst keine Witze, nicht wahr, Roy?«
»Du weißt doch, womit ich vor meiner Karriere als Hummerfischer mein Geld verdient habe.«
»Ja, du warst oben in Orono Professor an der Universität.«
»Richtig. Ich war Leiter des Fachbereichs Ozeanographie.
Wir haben Wellenbewegungen untersucht. Hast du schon mal den Begriff ›Perfekter Sturm‹ gehört? Tja, eine perfekte Flutwelle rollt genau auf euch zu. Nach meiner Berechnung wird sie in fünfundzwanzig Minuten ankommen. Mir ist egal,
was
du den Motelgästen erzählst. Sag ihnen, es gäbe ein Gasleck, eine Bombendrohung oder
irgendwas
. Bring sie einfach nur da raus und auf höher gelegenes Gebiet. Und zwar
sofort
.«
»Okay, Roy.
Okay.
«
»Ist auf der Main Street irgendein Laden geöffnet?«
»Das Cafe. Der kleine Jacoby hat die Frühschicht. Ich sammle ihn ein und schau dann am Pier vorbei.«
»Sorg dafür, dass in fünfzehn Minuten alle von dort abgehauen sind. Das gilt auch für dich und Ed Jacoby.«
»Werd ich. Danke, Roy. Bye.«
Jenkins wurde vor lauter Anspannung fast schwindlig. Er konnte Rocky Point deutlich vor seinem inneren Auge sehen.
Die Häuser der zwölfhundert Bürger dieser Stadt drängten sich wie in einem Amphitheater auf den Hang eines kleinen Hügels, der oberhalb des nahezu runden Hafenbeckens aufragte.
Letzteres lag relativ geschützt, doch nach einigen schweren Orkanen und den damit verbundenen Sturmfluten hatten die Einheimischen gelernt, nicht allzu nah am Wasser zu bauen. An der Main Street, die am Hafen vorbeiführte, beherbergten die alten Backsteinbauten mittlerweile ausschließlich Geschäfte und Restaurants, die vornehmlich von Touristen besucht wurden.
Ansonsten gab es dort unten nur noch den Fischerpier und das Motel. Jenkins legte den Schubhebel um und hoffte, dass seine Warnung noch rechtzeitig eingetroffen war.
Chief Howes bedauerte sofort, Roys dringender Bitte nachgegeben zu haben, und wurde von einem lähmenden Gefühl der Ungewissheit übermannt. Was er auch tat, es konnte völlig danebengehen. Er kannte Jenkins seit frühester Kindheit, und in der Schule war Roy der Schlaueste von allen gewesen. Als Freund hatte er sich bislang immer auf ihn verlassen können.
Und dennoch.
Ach, zum Teufel damit, er würde sowieso bald in Pension gehen.
Howes schaltete das Signallicht ein, trat das Gaspedal bis zum Boden und startete mit qualmenden Reifen in Richtung Hafenviertel. Während er die kurze Strecke zurücklegte, verständigte er über Funk seinen Deputy und wies ihn an, Jacoby aus dem Cafe zu holen und dann mit dem Streifenwagen die Main Street abzufahren, um per Lautsprecher alle Leute zu veranlassen, sich bergaufwärts zu begeben. Der Chief kannte den Tagesrhythmus der Stadt und wusste, wer bereits auf den Beinen sein oder gerade eine Runde mit dem Hund drehen würde. Zum Glück machten die meisten Läden erst um zehn Uhr auf.
Bei dem Motel sah die Sache schon anders aus. Howes hielt zwei leere Busse an, die eigentlich unterwegs waren, um die Schulkinder einzusammeln, und befahl den Fahrern, ihm zu folgen. Mit quietschenden Reifen brachte er seinen Wagen dann unter dem Baldachin des Harbor View zum Stehen und rannte zum Eingang. Howes empfand
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