Fleisch und Blut: Der Kannibale (German Edition)
Küche.
Kürzlich hatte er einige neue Rezepte im Internet gefunden. Er wusste, dass einige Menschen auf diesem Planeten seine Vorliebe teilten. Es waren viele, vielmehr, als man denken würde. Ein sehr leckeres Rezept aus dem Mittelalter kochte er aus dem Stegreif nach. Er brauchte nur das Fleisch in kleine Scheiben zu schneiden und mit Myrrhe und etwas Aloe zu besprenkeln, um es dann für ein paar Tage in Weingeist einzuweichen. Dann liess er es an der trockenen Luft hängen, um sich drei Wochen später sein kostbares Stück Lebewesen zu servieren. Das Menschenfleisch war nicht nur äusserst bekömmlich, es bot hochwertiges, arteigenes Eiweiss. Natürlich ass er es nicht nur deswegen, oder wegen des ausgezeichneten Geschmackes oder der Familientradition: Vor allem verzehrte er Menschenfleisch aus tiefster Liebe zu seinen Mitmenschen und wegen der Aufnahme von deren Mana.
Ja, das Mana, darum ging es ihm wirklich. Das Mana, die Kraft der Seele und deren Wirkung, steckten in dem Fleisch und wurden ihm jeweils abgegeben, wenn er das Stück in sich aufnahm. Mana äusserte sich in Menschen als Autorität, Charisma oder Lebenskraft. Genauso wie das Fleisch vermittelten ihm seine Rituale, die Kontaktaufnahme mit den Ahnen, das Mana.
Seine Lust auf das Essen war unbändig. Nichts konnte ihn zurückhalten.
Wieder begann er sein Lied zu singen: «Cormarye, Cormarye.»
Augapfel auf der Fensterbank
Mediziner Kägi und sein Team von der Spurensicherung trafen nach den Kommissaren Aemisegger und Köppel auf dem Parkplatz bei der Waldhütte ein.
Eine aufgelöste Frau erwartete die Herren bereits und fühlte sich gedrängt, ihnen den schockierenden Fund in der Waldhütte zu zeigen.
Die Waldhütte war vom regionalen Turnverband für einen Plauschtag mit rund 30 Kindern gemietet worden. Die Betreuerin klang besorgt: «Die Kinder wollten mit den Knochen spielen. Sie haben gedacht, die gehören zum Plauschtag dazu. Erst als ich das menschliche Ohr auf einem Stuhl liegen sah, realisierte ich, dass die Knochen von einem Menschen stammen könnten. Ich habe Sie sofort informiert!»
Die Kinder hatte sie bereits von den Eltern abholen lassen, um ihnen einen weiteren Anblick zu ersparen. Auch wenn die Kleinen noch nicht genau wussten, was hier vor sich ging: Dies war definitiv nichts für neugierige Kinderaugen.
«Das war das einzig Richtige, was sie tun konnten», bemerkte Kommissar Köppel.
Der Anblick, der sich ihnen bot, als sie die Waldhütte betraten, war schlimm: der Boden war mit Knochen übersät. Dass es sich um die Skeletteile eines Menschen handelte, war Kägi und den Kommissaren sofort klar, als sie das Ohr und den Finger auf der Sitzfläche des Holzstuhles liegen sahen. Über der Lehne, auf dem Fenstersims dahinter, lag ein glotzender Augapfel, wie man ihn aus einem Dracula-Film kannte.
«Der Täter hat sein Opfer bestialisch zerstückelt!» Kägi sprach aus, was die anderen dachten. Der blanke Horror zeigte ihnen schonungslos sein Gesicht.
«Und er wollte, dass wir seine Tat entdecken», ergänzte Köppel betreten. Aemisegger hatte es für einen Moment die Sprache verschlagen. Selbst Kägi, der in seinen bald 40 Berufsjahren schon einige Leichen obduziert hatte, runzelte die Stirn. Wohl war es niemandem im Raum. Köppel verschwand nach draussen, schnell gefolgt von den anderen.
Auf dem Vorplatz der Hütte war ein mit kopfgrossen Steinen umzäunter Grillplatz. Auch hier lagen einige Knochen verstreut. Wobei diese nicht sauber geputzt waren wie diejenigen in der Hütte, sondern vielmehr dem Feuer standhielten und teilweise noch etwas Fleisch oder Sehnen dran hängen hatten.
«Was war denn hier los?», wunderte sich Kägi.
Aemisegger versuchte ihm gedanklich zu folgen und beobachtete ihn, wie er mit einem Stecken ein vertrocknetes, braunes Stück aus der Asche schob.
«Das frage ich mich auch gerade, Kollege. Schauen Sie Aemisegger, das ist Kot.»
«Bitte?»
Kägi betrachtete das Stück Scheisse noch eine Weile und folgerte zum Schluss: «Es könnte sich hierbei um menschlichen Kot handeln. Ich stelle mir gerade vor, wie der Täter hier seine Notdurft verrichtete, bevor er den Schauplatz verliess.»
Kommissar Aemisegger guckte angewidert auf das Stück Scheisse, das vor ihm lag. Die Sprache hatte es ihm schon länger verschlagen und die Bilder, die sich in seinem Kopf zusammensetzten, waren kaum zu ertragen.
«Wo ist Köppel
Weitere Kostenlose Bücher