Flesh Gothic (German Edition)
zu hinterlassen, wurden diese Mythen und Legenden an nachfolgende Generationen weitergegeben. Grimoiren, Kompendien und mehr okkulte Bücher, als ein einzelner Mensch zu Lebzeiten lesen könnte – seit dem Tod Christi durch das Mittelalter bis hinein ins frühe 20. Jahrhundert. Erwähnungen von Spalten, Portalen, Pforten in die Unterwelt und den mystischen Geheimnissen, die man ergründen muss, um sie zu öffnen, finden sich darin zuhauf. Meine Meinung? Wollen Sie die Wahrheit hören?«
»Ja«, erwiderte Westmore.
»Das ist größtenteils Kacke, Mr. Westmore.« Ein weiteres subtiles Lächeln, als Nyvysk eine Sensorleiste justierte. »Letztlich ist Glaube der Spalt. Ich glaube an alles, woran ich glauben muss. Ich glaube an den Himmel und die Hölle. Sie auch?«
»Verdammt, ich weiß es nicht.«
Nyvysks Lächeln war verpufft. »Ich vermute, das werden Sie wissen, wenn wir diese Sache hier durchgestanden haben.«
Den Großteil des restlichen Tages verbrachte Westmore im Büro und vergaß sogar, zum Essen nach unten zu gehen. Er sah kaum ein anderes Mitglied der Gruppe für mehr als ein paar Augenblicke. Als er Karen im Flur begegnete, hatte sie ihn nur kurz angelächelt und ihm zugenickt, bevor sie mit grüblerisch versunkener Miene weitergegangen war. Offensichtlich hatte sie ihren Kuss und die gemeinsam verbrachte Nacht verdrängt – vermutlich, weil sie zu betrunken gewesen war. Ein rein platonischer, dennoch auf exotische Weise erregender Vorfall. Sie hatte sein Bett bereits verlassen, als er aufwachte. Zurückgeblieben war nur der Duft ihres Haars.
Irgendwann entdeckte Westmore durch das Fenster Cathleen, wie sie barfuß auf die Öffnung des kleinen Wäldchens zuschlenderte, die zum Friedhof führte. Sie trug nur einen weißen Bikini und einen Sarong. Einen Moment lang blieb sie vor der Lücke zwischen den Bäumen stehen. Die Brise zerzauste ihr das Haar und brachte den Sarong in Wallung. Dann drehte sie sich plötzlich um und entfernte sich beinahe im Laufschritt. Schlimme Erinnerungen, dachte Westmore. Allerdings ging ihm dabei auch durch den Kopf, dass er in der kommenden Nacht mit Clements denselben Friedhof betreten würde.
Falls der Kerl aufkreuzt .
Nachdem er sich einige weitere Stunden mit seinem Bericht beschäftigt hatte, führte er ein paar Suchmaschinenanfragen zu den Zahlen und Begriffen auf dem Zettel aus dem Tresor durch. Nur das Wort »Apogäum« erbrachte eine schier endlose Zahl von Treffern, die sich im Grunde genommen aber als nutzlos erwiesen. Als er feststellte, dass er mit der Aufgabe überfordert war, rief er abermals seinen Freund Tom an, der widerwillig zustimmte, einige weitere kompetente Recherchen anzustellen.
Rastlos entschied Westmore, ein wenig herumzustreunen. Er musste noch vor Mitternacht die verborgene Tür finden, die Clements’ bizarre Gefährtin erwähnt hatte. Sie hatte ihm beschrieben, wie er dorthin gelangte – ein Bereich, den er bereits kannte. Und so kommt man dorthin, dachte er, während er den schmalen, weinroten Vorhang in der Ecke des Büros betrachtete.
Er ging hindurch und betrat ein Netzwerk von schulterbreiten Gängen, die von winzigen Leuchtern erhellt wurden. Die Wege schienen um die Außenmauern der Villa herumzuführen und über mehrere genauso schmale Treppen einen Zickzackkurs nach unten zu beschreiben. Schließlich erreichte er eine prunkvoll ausgestattete, aber beengte Bibliothek. Laut dem Mädchen ist das der Raum ... Bücherregale aus Eichenholz säumten die Außenwand. Westmore begann, daran zu ziehen und zu zerren. Dabei bemerkte er die seltsamen Titel auf den Buchrücken. Viele der Werke schienen außerordentlich alt zu sein: Cultes Des Ghoules, Terra Dementata, Megapolisomantie und etliche weitere. »Komisches Fleckchen«, murmelte Westmore. Etwas schien die Luft zu verstopfen, doch er vermochte nicht zu sagen, was. Außerdem fühlte er sich beobachtet, aber er wusste, dass dies vermutlich nur an der Atmosphäre und seiner Paranoia lag. Dann fiel ihm in einer abgelegenen Ecke ein heller Vorhang auf. Er blickte dahinter und sah die schwere metallgefasste Tür vor sich.
Das ist sie .
Keine besonders schwierige Sache. Es war jetzt kurz nach 20:00 Uhr – ihm blieben noch knapp vier Stunden. Er konnte noch mal ins Büro zurück, um weiterzuarbeiten, doch plötzlich überkam ihn eine spontane Müdigkeitsattacke. Ich denke, ich genehmige mir ein kurzes Nickerchen, dachte Westmore und fühlte sich alt. Aber wo? Ganz bestimmt nicht in
Weitere Kostenlose Bücher